Hört auf, das Gesundheitswesen zu steuern

Essay
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21439
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):16-19

Publiziert am 01.02.2023

MikroregulierungDas Schweizer Gesundheitswesen gilt als eines der besten, aber auch als eines der teuersten der Welt. Weshalb die Regulierungswut der Politikerinnen und Politiker nichts bringt – und welche negativen Nebenwirkungen sie hat. Ein Essay.
Die Zahlen sind eindrücklich: Das Parlament verabschiedete von 2001 bis 2021 insgesamt 44 neue Versionen des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Aus dem KVG wurde ein neues Gesetz geschaffen, indem die Aufsichtsbestimmungen ins Aufsichtsgesetz (KVAG) ausgelagert wurden. Die Seitenzahl der beiden Gesetze stieg von 40 auf 100. Dazu kamen 112 Änderungen in der Leistungsverordnung KLV und 67 in der Versicherungsverordnung KVV. Der Textumfang der beiden Verordnungen wurde dadurch von 122 auf 196 Seiten ausgedehnt.
Steuerungsfunktionen im Gesundheitswesen sind Barrieren: Sie verursachen unbeabsichtigte Folgen und schaden mehr als sie nutzen.
© Lars Christnsen / Dreamstime

Regulierungen sind kontraproduktiv

Wer angesichts dieser Regulierungsflut vermutet, das Parlament habe das Kostenproblem lösen können, irrt kräftig. Denn der Bundesrat lanciert ein Kostendämpfungspaket nach dem anderen und beweist damit, dass die bisherigen Regulierungen auf der Kostenseite nichts bewirken. Die unzähligen Reformen ändern am langfristigen Kostenwachstum nichts – das kann auch in anderen Ländern beobachtet werden. Was die Regulierungen dagegen bewirkten, ist der höhere administrative Aufwand für die Ärzteschaft, der in acht Jahren um vier Prozentpunkte auf 20% der täglichen Arbeit gestiegen ist [1]. Ähnliches erfahren auch andere medizinische Berufe. Die Verwaltung musste ebenfalls aufrüsten, da die parlamentarischen Vorstösse verarbeitet und je nach Ausgang der Debatte umgesetzt werden müssen. Der Personalaufwand beim BAG stieg in nur zehn Jahren um sagenhafte 60%.
Diese Fakten lassen keinen anderen Schluss zu, als dass es sich hier um Mikroregulierung handelt, die mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Angesichts der theoretischen Diskussionen über Sinn und Unsinn solcher Interventionen ist das keine Überraschung. Das Gesundheitswesen ist unbestritten ein komplexes System, das sich selbst organisiert. Wenn jetzt ein anderes komplexes System – wie die Politik – versucht, steuernd darauf einzuwirken, so reagiert ersteres offensichtlich so, wie es die komplexen Abläufe im System verlangen. In unserem Beispiel mit mehr administrativem Aufwand.
Die Absicht der Politik war jedoch, die Qualität und Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat die Politik bereits in den Achtzigerjahren geschockt, indem er ihr fast jegliche Steuerungsfunktion absprach (siehe Kasten zur Scharpf-Luhmann Kontroverse). Bei Mikroregulierungen hätte Luhmann zweifellos die beabsichtigte lenkende Wirkung verneint. Kein Wunder, zeitigen diese im Gesundheitswesen unbeabsichtigte Folgen, welche die Leistungserbringung schädigen.

Unzufriedenheit trotz Weltspitze

Gemäss Dr. Daniel Scheidegger, dem ehemaligen Präsidenten der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, hat die Politik keines ihrer Steuerungsziele erreicht. Im Gegenteil: Er behauptete jüngst im Tages-Anzeiger [2], wir würden das Gesundheitswesen an die Wand fahren. Generell ist die Unzufriedenheit bei vielen Meinungsmachern gross: Die Medien singen das Hohelied der Kostenexplosion unbesehen der sinkenden Wachstumsraten seit den Siebzigerjahren [3].
Die Unzufriedenheit im Parlament ist durch seine Aktivität dokumentiert und die Parteien sind sich nur in einem Bereich einig: Das Gesundheitswesen sei durchdrungen von Fehlanreizen. Als ich kürzlich in einem Referat dem Publikum Zitate aus den gesundheitspolitischen Papieren der Bundesratsparteien anonymisiert vorlegte, konnte sie niemand auch nur annähernd korrekt zuordnen.
Die Ökonomen Eichenberger, Binswanger und Locher betonen das Kostenproblem bis hin zur Fünf-vor-zwölf-Warnung (Locher). Kein Wunder nennen gemäss dem Sorgenbarometer der Credit Suisse [4] 24% der Bevölkerung das Gesundheitswesen als ihre Hauptsorge. Immerhin war dieser Anteil vor der Pandemie weitaus höher, nämlich 41%. Es scheint, als sei die Bevölkerung alarmmüde geworden. Dazu passt die unverändert hohe Zufriedenheit mit dem Gesundheitswesen, die im gfs-Gesundheitsmonitor ausgewiesen wird. Diese Zufriedenheit ist international keineswegs selbstverständlich [5]. Sie basiert auf harten Fakten.
Ausgenommen bei der Digitalisierung [6] schneidet das Schweizer Gesundheitswesen in den internationalen Vergleichsstudien sehr gut ab: Im Euro Health Consumer Index 2018 und im World Index of Healthcare Innovation von 2021 im sind wir sogar die Nummer eins [7]. Einzig der Commonwealth Fund beurteilt uns kritisch. Hier wurden wir neunte von elf verglichenen Spitzennationen. Das Problem waren hier allerdings die Bereiche «administrative Effizienz» und «Zugang». Letzteres aufgrund der fehlenden Zahnmedizin in der Grundversicherung. Demgegenüber landeten wir in den Bereichen «Outcomes» und «Gleichheit» auf Rang 3 [8].

Aktivismus ist völlig fehl am Platz

Was ist vom Aktivismus Schweizer Politikerinnen und Politiker zu halten? Nicht viel, weil er in der Vergangenheit allzu oft mit falschen Argumenten gerechtfertigt wurde. Dass es «fünf vor zwölf» sei, hört man schon seit 40 Jahren. Und die Belastung der Haushalte wird systematisch überschätzt: Jacqueline Badran behauptete jüngst, die Krankenkassenprämienbelastung liege bei 14% der Haushaltseinkommen. Tatsächlich sind es gerade mal 6,7% [9]. Experten orten die Probleme in den Bereichen Personalmangel, Fehlversorgung und Kostenexplosion. Während der Personalmangel unbestritten ist, stimmt die Mär von der Kostenexplosion nicht. Die sinkenden Wachstumsraten sprechen Bände (siehe oben).
Häufig wird von Fehlanreizen gesprochen. Natürlich gibt es jede Menge Fehlanreize, aber diese zu beheben ist alles andere als einfach. Jeder Anreiz beinhaltet einen Fehlanreiz. Als Beispiel können Pauschalvergütungen dienen. Diese haben den Anreiz, Kosten zu sparen, was bei ineffizienten Prozessen sinnvoll ist. Sie bergen jedoch die Gefahr, Patientinnen und Patienten ungenügend zu behandeln oder zu selektionieren. Will man diesen Fehlanreiz beheben, braucht es eine Einzelleistungsvergütung. Hier fehlt aber der Anreiz, mit den Ressourcen sorgsam umzugehen. Der Kreis schliesst sich.

Das Problem der Zukunft

Nicht die Überversorgung wird das Problem der Zukunft sein, sondern die Unterversorgung. Der Personalmangel stösst nämlich auf eine zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, weil die geburtenreichen Jahrgänge nicht nur pensioniert, sondern in den kommenden Jahren mehr und mehr gesundheitliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen müssen [10].
Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass Bundesrat und Parlament die Gefechte von gestern austragen. Die drohende Unterversorgung wird viel dramatischer und bedrohlicher sein als das angebliche Kostenproblem, welches die Haushaltsbudgetbelastung in den letzten 20 Jahren von 4,5 auf 6,7% steigen liess [11]. Wie ein solches System des Mangels aussehen könnte, kann momentan im staatlichen Gesundheitssystem NHS in Grossbritannien beobachtet werden. Während auf der Warteliste 6,8 Millionen Personen stehen, kündigte das Pflegepersonal Ende Jahr einen Streik an [12].
Dr. Fridolin Marty
Leiter Gesundheitspolitik bei economiesuisse

Die Scharpf-Luhmann Kontroverse

Am Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft von 1988 stritten sich der deutsche Soziologe Niklas Luhmann und der Rechts- und Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf über die Möglichkeiten und Grenzen von politischer Steuerung. Scharpf war der Optimist, Luhmann der Pessimist. Gemäss Luhmann kann durch die Selbstorganisation eines Systems (zum Beispiel des Gesundheitswesens), dieses von einem anderen System (zum Beispiel Politik) nur sehr bedingt gesteuert werden. Häufig treten nicht intendierte Wirkungen auf bis hin zur Umkehrung der beabsichtigten Ziele. Scharpf sah das anders und war überzeugt, dass sogar theoretisch eine Steuerung möglich sei. Diesen Optimismus relativierte er dreissig Jahre später in einem Interview. Nicht weil er die theoretischen Überlegungen Luhmanns akzeptierte, sondern weil er sah, dass die Globalisierung und die offenen Grenzen die politische Steuerung in einem Land viel schwieriger machen. Der Soziologe Helmut Willke hat in der Folge eine Synthese versucht und im Geiste Luhmanns die Position weiterentwickelt. Willke geht davon aus, dass staatliche Steuerungskompetenzen vorhanden sind, durch die Komplexität moderner Gesellschaften allerdings beschränkt werden. Besonders die systemtheoretischen Kerntheoreme von Autopoiesis [13] und operativer Geschlossenheit [14] erschweren die Einwirkung über Systemgrenzen hinweg, sodass Steuerungsleistung laut Willke vornehmlich daraus entsteht, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass andere Systeme diese als handlungsstimulierend aufgreifen (Kontextsteuerung). Mikroregulierung kann deshalb offensichtlich nicht funktionieren. Luhmann hatte recht. Das ist nicht überraschend, denn während Luhmann ein Klassiker der Soziologie des 20. Jahrhunderts wurde, kennt Fritz W. Scharpf heute niemand mehr.
1 saez.ch/article/doi/saez.2020.18482
3 Sheila D. Smith, Joseph P. Newhouse & Gigi A. Cuckler; Health Care Spending Growth Has Slowed: Will the Bend in the Curve Continue? www.nber.org/papers/w30782
4 www.credit-suisse.com/about-us-news/de/articles/media-releases/credit-suisse-sorgenbarometer-2022--grosse-rochade-bei-den-top-s-202211.html
5 Im gfs-Gesundheitsmonitor (vgl. www.interpharma.ch/wp-content/uploads/2020/02/iph_gesundheitsmonitor_2019_d.pdf) ist die Zufriedenheit mit dem Gesundheitswesen 86%. Verglichen mit unseren Nachbarländern ist das einzigartig: Deutschland: 39%, Frankreich: 47% Italien: 31% (vgl. www.statista.com/statistics/1109036/satisfaction-health-system-worldwide-by-country/). Ein direkter Vergleich ist leider nicht möglich, da die Schweiz in der Zufriedenheitsstatistik von Statista (2019) nicht geführt wird.
freopp.org/switzerland-freopp-world-index-of-healthcare-innovation-60282abb7460g
9 Haushaltsbudgeterhebung vom Bundesamt für Gesundheit.
10 www.nzz.ch/meinung/der-heutige-pflegenotstand-ist-erst-ein-vorgeschmack-ld.1714801?reduced=true
12 The Economist – The World ahead 2023: Britain’s NHS faces huge challenges in 2023. www.bbc.com/news/health-63561305
13 Das Konzept der Autopoiese charakterisiert lebende Systeme als den Prozess, das heisst konkret die Form der Organisation, der diese verwirklicht, anstatt sie über eine Aufzählung ihrer einzelnen Eigenschaften zu definieren. Beispiele sind Beweglichkeit oder Reizbarkeit.
14 Operative Geschlossenheit meint, dass jedes System selbst eine Vorgehensweise (= Operativität) wählt, wie und wodurch es auf die Umwelt reagiert. Es kann sich auf diese Weise von Aussen unterscheiden und eine Identität ausbilden. Jedes System kommt zu eigenen Ergebnissen beim Umgang mit seiner Umwelt.