Home Treatment – Krisenintervention zu Hause

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21445
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):75-76

Publiziert am 08.03.2023

Behandlung Home Treatment ist ein intermediäres Behandlungskonzept zur zeitlich begrenzten psychiatrischen Krisenintervention im häuslichen Umfeld von Patienten. Es ist klinisch wirksam, kosteneffizient, kann stationäre Behandlungen ersetzen oder verkürzen und wird von vielen Patienten und Angehörigen begrüsst. In der Schweiz kommt die Implementierung aber bis heute wegen einiger Hürden nur langsam voran.
Home Treatment zur Krisenintervention für akute psychische Erkrankungen wird von deutschsprachigen und internationalen Versorgungsleitlinien [1, 2] aufgrund überzeugender wissenschaftlicher Evidenz zur Implementierung in allen Versorgungsregionen empfohlen. Home Treatment kann bei mindestens gleicher Wirksamkeit stationäre Behandlungen verkürzen oder ersetzen, führt zu weniger Behandlungsabbrüchen, höherer Zufriedenheit bei Patienten und Angehörigen sowie geringeren Behandlungskosten [3]. Während in anderen europäischen Ländern mobile aufsuchende, intermediäre psychiatrische Behandlungsangebote bereits seit vielen Jahren etabliert sind und entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen und Finanzierungsgrundlagen bestehen, ist eine Implementierung in der Schweiz bis heute nur im Rahmen von regionalen Modellprojekten möglich.
Home Treatment wird von interprofessionellen Behandlungsteams durchgeführt.
© Syda Productions / Dreamstime

Zukunftsmodell intermediäre Behandlungsangebote

Die psychiatrische Behandlung soll nur dann stationär erfolgen, wenn ambulante oder intermediäre Settings nicht ausreichen oder nicht zur Verfügung stehen. Zukünftig sollen daher intermediäre Kapazitäten ausbaut werden, um stationäre Behandlungen zu ersetzen und die erwartete steigende Inanspruchnahme psychiatrischer Leistungen abzudecken. Der intermediäre Versorgungssektor umfasst alle Settings zwischen der ambulanten Behandlung bei niedergelassenen Psychiatern, Psychotherapeuten und Hausärzten und der stationären Behandlung in psychiatrischen Kliniken. Hierzu gehören komplexe interprofessionelle Behandlungen in psychiatrischen Ambulatorien, Tageskliniken und aufsuchende Versorgungskonzepte [4]. Letztere lassen sich unterscheiden in zeitlich primär unbegrenzte, niedrig- bis mittelfrequente Behandlungsmodelle (z. B. Assertive Community Treatment) und zeitlich auf eine Krisenintervention bzw. Akutbehandlung limitierte, hochfrequente intensive Behandlung zu Hause (Home Treatment). Home Treatment wird in der Regel von interprofessionellen Behandlungsteams durchgeführt, bietet tägliche Hausbesuche und eine Erreichbarkeit rund um die Uhr. In der Schweiz existieren verschiedene Modelle, die sich in drei Hauptkategorien einteilen lassen.

Voraussetzungen für die Implementierung

Für die Umsetzung eines Home-Treatment-Angebots ist ein überzeugendes klinisches und betriebliches Konzept durch den Leistungsanbieter, in der Regel eine psychiatrische Institution mit Grundversorgungsauftrag, sowie die Unterstützung durch die Kostenträger Kanton und Krankenkassen notwendig. Da Home Treatment mit einem hohen organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Aufwand verbunden ist (v. a. Personalintensität, Wegzeiten, betriebliche Organisation, Leistungen in Abwesenheit der Patienten, Aufnahmebereitschaft und Notfallvorhalteleistungen), muss ein tragfähiges Finanzierungsmodell ausgehandelt werden [5]. Hierfür kommt grundsätzlich die Finanzierung von Einzelleistungen (z. B. über ambulante Tarife) mit Subventionierung der dadurch nicht abgedeckten Leistungen durch den Kanton oder eine Finanzierung über Tagespauschalen mit definiertem Kostenteiler zwischen Krankenkassen und Kanton in Frage. Da es sich um ein stationsäquivalentes intensives Behandlungsangebot handelt, eignet sich das ambulante Tarifsystem mit den zahlreichen Limitationen nur bedingt. Bei den meisten etablierten stationsersetzenden Home-Treatment-Angeboten haben sich inzwischen Tagespauschalen durchgesetzt. Das neue Angebot muss in bestehende Versorgungsstrukturen eingepasst werden, bedarfsgerecht und flexibel zur Verfügung stehen und so zugänglich sein, dass tatsächlich stationäre Behandlungen dadurch ersetzt oder verkürzt werden. Eine systematische Begleitevaluation durch klinische Basisdaten oder ein umfassenderes Forschungsprojekt ist daher wesentlich.

Wissenschaftliche Studien aus der Schweiz

Schweizer Daten zum Home Treatment stammen aus einer randomisiert kontrollierten Studie (RCT) aus dem Aargau sowie Beobachtungsstudien aus Zürich, Aargau und dem Tessin. Die Ergebnisse des Aargauer RCT belegen, dass das Home Treatment bei vergleichbarer Qualität und Behandlungsdauer sowie tieferen Kosten bis zu 30% der stationären Behandlungstage ersetzen kann [6]. Nach Beendigung der Studie wurde allerdings eine Tendenz zur Verlängerung der Behandlungsdauer sowie eine Veränderung des Klientels (weniger Übernahmen von Patienten nach Einweisung mit Fürsorgerischer Unterbringung und mit psychotischen Störungen) im Home Treatment festgestellt [7]. In den nicht-experimentellen Beobachtungsstudien in Zürich und im Tessin wurden vergleichbare Funktionseinschränkungen und Wiederaufnahmeraten bei Patientinnen im Home Treatment und im stationären Setting festgestellt – auch die Erkrankungsschwere und Behandlungsdauer war ähnlich. Auch der Anteil von Patienten mit einer psychotischen Störung als Hauptdiagnose von 30% entsprach dem Anteil im stationären Setting [8, 9]. Bei Patienten mit einer höheren sozialen Integration (Zusammenleben mit anderen Menschen, bestehender Arbeitsplatz, weniger soziale Probleme) können mehr stationäre Pflegetage durch Home Treatment ersetzt werden [10]. Die Zufriedenheit der Patienten im Home Treatment war generell hoch, unabhängig von soziodemographischen und klinischen Charakteristika [11]. Die Information zur Möglichkeit der Akutbehandlung im Home Treatment ist bei Patienten und Zuweisenden noch nicht sehr verbreitet (40 bis 60% hatten keine Informationen über diese Option [12]).

Für Sie zusammengefasst vom:

DGPPN-Kongress
23.-26.11.2022
Berlin
PD Dr. med. Matthias Jäger
ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und seit 2018 Direktor der Erwachsenenpsychiatrie sowie Chefarzt Privatklinik der Psychiatrie Baselland. Seit 2008 ist er Privatdozent an der Universität Zürich.
1 DGPPN - Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2019). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Berlin: Springer.
2 NICE – National Institute for Health and Care Excellence (2014). Psychosis and schizophrenia in adults: prevention and management – Clinical guideline. www.nice.org.uk/guidance/cg178.
3 Murphy SM, Irving CB, Adams CE, Waqar M (2015). Crisis intervention for people with severe mental illnesses. Cochrane Database of Systematic Reviews. CD001087.
4 BAG – Bundesamt für Gesundheit (2016). Antwort des Bundesrates auf Postulat Stähelin «Zukunft der Psychiatrie». https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/politische-auftraege-im-bereich-psychische-gesundheit.html.
5 BASS - BÜRO FÜR ARBEITS- UND SOZIALPOLITISCHE STUDIEN (2018). Erfolgskriterien mobiler Dienste in der Psychiatrie Schlussbericht. https://www.buerobass.ch/fileadmin/Files/2018/BAG_2018_Mobile_Dienste_Psychiatrie_d.pdf.
6 Stulz N, Wyder L, Maeck L, Hilpert M, Lerzer H, Zander E, et al. (2020). Home treatment for acute mental healthcare: randomised controlled trial. The British Journal of Psychiatry, 216, 323-330.
7 Stulz N, Kawohl W, Jäger M, Mötteli S, Schnyder U, Hepp U (2020). From research to practice: Implementing an experimental home treatment model into routine mental health care. European Psychiatry, 63, e94, 1–6.
8 Mötteli S, Schori D, Schmidt H, Seifritz E, Jäger M (2018). Utilization and effectiveness of home treatment for people with acute severe mental illness: A propensity-score matching analysis of 19 months of observation. Frontiers in psychiatry, 9: 495.
9 Soldini E, Alippi M, Zufferey MC, Lisi A, Lucchini M, Albanese E, et al. (2022). Effectiveness of crisis resolution home treatment for the management of acute psychiatric crises in Southern Switzerland: a natural experiment based on geography. BMC psychiatry, 22, 1-11.
10 Mötteli S, Jäger M, Hepp U, Wyder L, Vetter S, Seifritz E, Stulz N (2021). Home treatment for acute mental healthcare: who benefits most? Community mental health journal, 57, 828-835.
11 Mötteli S, Schori D, Menekse J, Jäger M, Vetter S (2020). Patients’ experiences and satisfaction with home treatment for acute mental illness: a mixed-methods retrospective study. Journal of Mental Health.
12 Mötteli S, Risch L, Hotzy F, Vetter S (2022). Knowledge and attitude towards home treatment among referring healthcare professionals and self-referring patients to a psychiatric hospital: Better information is needed. International Journal of Social Psychiatry, 68, 852-859.