Was sage ich meinen Enkeln?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21446
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(09):74

Publiziert am 01.03.2023

Wie viele andere auch, setze ich mich für das Klima ein: Ich unterstütze das Engagement der Aktivistinnen und Aktivisten – ob jung, weniger jung oder längst nicht mehr jung. Ich glaube das, was durch unumstössliche wissenschaftliche Daten belegt ist. Es stimmt mich nachdenklich, wenn Menschen abstreiten, dass die massive Nutzung fossiler Brennstoffe innerhalb eines Jahrhunderts dazu geführt hat, ein seit Millionen Jahren bestehendes Ökosystem vollkommen aus dem Gleichgewicht zu bringen! Bei zahlreichen Ressourcen verzeichnen wir einen exorbitanten Anstieg von Nutzung und Verbrauch.
Zwei unserer Enkelkinder sind bereits volljährig und offen für das Engagement ihrer Grosseltern. Aber was sollen wir den jüngeren sagen, die erst zehn oder zwölf Jahre alt sind? Sollen wir sie damit konfrontieren, dass ganze Bevölkerungen ihre Lebensgewohnheiten aufgeben müssen und unser Planet noch vor Ablauf des Jahrhunderts unbewohnbar sein könnte? Sind wir gezwungen, unsere Enkelkinder «mit schlechten Nachrichten zu überfahren», wie ein Freund von mir es ausdrückte? Oder lassen sich die Hiobsbotschaften sozusagen in homöopathischen Dosen verabreichen?
Laut dem Wissenschaftssoziologen Bruno Latour erleben wir gerade das Ende der Moderne, die auf den Erfolgen des liberalen Modells fusst, und befinden uns auf einer rasanten Talfahrt ins Unwiderrufliche. Die Technologie hilft uns, das Tempo zu drosseln, aber sie kann nicht alles leisten. Wir brauchen dringend neue Narrative! Erzählungen mit langem Atem und Tiefgang, die von neuen Lebensweisen handeln. Erzählungen, die inspirieren.
Jean Martin
Dr. med., ehemaliger Kantonsarzt Waadt
Also: Was sage ich meinen Enkelkindern? Ich habe festgestellt, dass ich ihnen durch mein eigenes Handeln bereits etwas vermittle. Nämlich die Bewunderung für die Natur, die Freude, in ihr zu leben und sie zu durchwandern: die Blumen, die Bäume, das Singen der Vögel im Frühling, die Voralpen und die Alpen.
All das ist in Gefahr, einschliesslich der Artenvielfalt, die sich im freien Fall befindet. Sollen wir uns damit abfinden? Ist es belanglos, wenn unseren Enkelkindern und später ihren Kindern diese Dimensionen unseres Lebensraums, deren integraler Bestandteil wir sind (nicht mehr und nicht weniger), vorenthalten bleiben? Ist es vorstellbar, dass künftige Generationen sich mit fader Eintönigkeit zufriedengeben? Vielleicht – wahrscheinlich sogar. Denn diese Generationen werden zunehmend in einer gleichförmigen, stereotypen, plastifizierten, aseptischen Gesellschaft mit Plastikblumen und Kunstrasen leben. Aber trotz allem wäre es gut, wenn die Antwort lauten würde: «Ja, wir müssen grosse Anstrengungen unternehmen, um das Überleben aller Lebewesen und aller Arten, in all ihren Ausprägungen, zu sichern.»
Hierzu ein Vorschlag für die Praxis: Die Lehrpläne in den Schulen sollten im Bereich «Naturwissenschaften» unter Bezugnahme auf die sozialen Aspekte verstärkt und neu ausgerichtet werden. Es geht darum, umfangreiche, objektive Kenntnisse mit den neu erdachten Narrativen zu verbinden. Diese Verstärkung muss interdisziplinär sein und Fachgebiete wie Geografie, Geschichte, Literatur, Kunst und Philosophie, aber natürlich auch Recht und Wirtschaft einschliessen. Es gilt nun, Behörden und pädagogische Fachpersonen von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der sich die Lage verschlechtert, sollte dies möglich sein.
An dieser Stelle möchte ich auch all jenen meine Anerkennung bezeugen, die sich dafür einsetzen, dass natürliche Lebensräume, die auf ihre Weise «vollwertige» Entitäten darstellen und deren Dasein einen Sinn hat, den Status von Rechtspersönlichkeiten bekommen.
Da kommt die Frage nach Sinn ins Spiel! Und nach Transzendenz in der einen oder anderen Form: Die Frage ist unerlässlich. Entscheidend wird letztlich unsere Fähigkeit sein, Narrative zu entwickeln und sie in die Tat umzusetzen.