Heilende Drogen

Heilende Drogen

Coverstory
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21450
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):10-13

Publiziert am 05.04.2023

Psychedelika Die Studien scheinen vielversprechend, viele Therapeuten sind überzeugt, dass es funktioniert: mit Drogen psychische Erkrankungen wie Depressionen und posttraumatischen Stress behandeln. Psychedelika-unterstützte Therapien sind in der Schweiz auf dem Vormarsch – in der Forschung, aber auch in den Praxen.
Während der Sitzung sprechen die Betroffenen kaum. Oft sind sie in sich versunken, liegen auf einer Matratze, manchmal mit verbundenen Augen oder Musik hörend. Häufig reagieren sie aber auf das, was um sie herum geschieht, etwa, wenn jemand lacht oder weint. Das kann ihre Erinnerungen verstärken, Vergangenes nachhallen lassen und damit das Erleben beeinflussen. Meiner Erfahrung nach ist der Einsatz von Psychedelika äusserst wirksam, um Blockaden in einer laufenden Therapie zu lösen.» So beschreibt es ein Genfer Psychiater, der seit zwei Jahren LSD und MDMA bei einigen seiner Patienten einsetzt.
© Caroline Murphy
Dies sind nicht die einzigen psychedelischen Substanzen, die für Psychiater von Interesse sind. Psilocybin, DMT (der Wirkstoff in Ayahuasca), Ketamin, Ibogain und Meskalin sind immer häufiger Gegenstand von Studien zur Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depression, posttraumatischem Stress oder Substanzmissbrauch [1]. Rund 60 klinische Studien laufen derzeit weltweit zu Psilocybin, dem Wirkstoff von halluzinogenen Pilzen, etwa 30 zu MDMA und etwa 10 zu LSD [2] (siehe Kasten «Die wichtigsten therapeutisch eingesetzten Betäubungsmittel»).
Die Schweiz spielt eine besondere Rolle bei diesem wiedererwachten Interesse an sogenannten «psychedelischen» Therapien. Während die internationale Forschung nach dem Verbot von Psychedelika in den 1970er Jahren zum Erliegen kam, konnte eine Gruppe von Therapeuten um den Psychiater Peter Gasser in Solothurn Studien durchführen und erzielte mit LSD und MDMA gute Resultate. «Die Drogenpolitik in der Schweiz ist in den 1990er Jahren pragmatisch geworden», sagt Adrian Gschwend, Betäubungsmittelspezialist beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Seit 2007 werde mit verbotenen Substanzen geforscht, seit 2014 seien mit Bewilligung durch das BAG eingeschränkte medizinische Anwendungen möglich (siehe Kasten «Steigende Zahl an Bewilligungen»). In den Nachbarländern, die keine Anwendung zu medizinischen Zwecken vorsehen, ist der Rahmen restriktiver.

Steigende Zahl an Bewilligungen

Das Gesetz erlaubt es dem Bundesamt für Gesundheit (BAG), neben Bewilligungen für die wissenschaftliche Forschung und Medikamentenentwicklung auch Ausnahmebewilligungen für die beschränkte medizinische Anwendung eines verbotenen Betäubungsmittels zu erteilen. Dies hat es im Jahr 2022 für MDMA, LSD oder Psilocybin in mehr als 220 Fällen getan (zu jeweils ungefähr gleichen Teilen). Die Zunahme ist mit etwa 70% pro Jahr rasant. Die Gesuche kamen hauptsächlich aus der Deutschschweiz, seit einigen Jahren aber auch aus der Romandie.
Die Kriterien sind streng: Die betreffende Erkrankung muss durch dokumentiertes Therapieversagen als unheilbar eingestuft sein, ein positiver Effekt für die Erhaltung der Autonomie muss zu erwarten sein und die Indikation muss durch Studien untermauert sein. Ablehnungen sind aber selten, erklärt Adrian Gschwend vom BAG: «Die Therapeuten kennen die Kriterien gut und gehen kein Risiko ein, da jedes Vorkommnis den Zugang zu diesen Ansätzen ernsthaft behindern könnte.»
Für viele Gesuche eignet sich das System der Ausnahmebewilligungen nicht. In diesen Fällen müsste ein Privatunternehmen bei Swissmedic ein Bewilligungsgesuch einreichen, ähnlich wie beim medizinischen Cannabis. Dies würde auch die Therapeuten entlasten, die jedes Gesuch wertvolle Zeit kostet.

Sitzung mit Psilocybin dauert bis zu sechs Stunden

Die Einnahme der Substanz sei zwangsläufig in eine monate- bis jahrelange Therapie eingebunden, erklärt Daniele Zullino, Leiter der Abteilung für Suchtmedizin am Universitätsspital Genf (HUG). Er bietet seit 2020 Psychedelika-unterstützte Psychotherapien an: «Ziel ist es nicht, auf einen Trip zu gehen, sondern bei der behandelten Person aufgrund dieser Erfahrung neue Perspektiven für ihr Leben und die therapeutische Arbeit zu eröffnen.»
Der am Anfang des Artikels erwähnte Psychiater, der etwa 30 Personen mit Psychedelika behandelt hat, zieht es vor, anonym zu bleiben, um nicht mit Anfragen überschwemmt zu werden. «Ich würde so etwas nicht jedem empfehlen. Wir klären im Vorfeld die Erwartungen und Ziele ab und bereiten die Sitzung vor. Das können Einzelsitzungen sein, bei denen zur Wahrung der Geschlechterdualität auch eine Kollegin zugegen ist, oder Gruppensitzungen mit sieben bis acht Patienten und mehreren Therapeuten.» Dieser Ansatz ist sowohl für die Betroffenen als auch für die Therapeuten anspruchsvoll. Eine Sitzung dauert mit Psilocybin fünf bis sechs Stunden, mit LSD das Doppelte.
Die Dosen liegen im mittleren bis hohen Bereich – 25 mg Psilocybin, 100-150 mg MDMA, 100-200 Mikrogramm LSD. In manchen Fällen kommt es zu einem Moment der Angst oder des Kontrollverlusts. «Eine Sitzung mit einem Psychedelikum ist kein Spaziergang», fährt der Psychiater fort. «Aber wir bereiten die Betroffenen gut vor, bieten ihnen einen sicheren Rahmen und bleiben an ihrer Seite. Ich habe bislang keine negativen Rückmeldungen gehabt; lediglich eine Person sagte mir, dass sie nicht beabsichtige, eine solche Erfahrung zu wiederholen. Eine Patientin erzählte mir, dass Antidepressiva für sie wie ein Heftpflaster seien, während das Psychedelikum eine Heilung von innen heraus angestossen habe. Das ist ein schönes Bild.» Manche Betroffene hören an dieser Stelle auf, andere machen noch eine oder mehrere Sitzungen, manchmal mit einer anderen Substanz.

Was sagen die Studien?

Es überrascht nicht, dass die Therapie mit Psychedelika sowohl die Spezialistinnen und Spezialisten, die sie praktizieren, als auch ihre Klientinnen und Klienten überzeugt. Die Forschung scheint diese positiven Erfahrungen zu bestätigen. Den Fallstudien folgten randomisierte klinische Studien. Die jüngste Metaanalyse [3] belegt signifikant positive Wirkungen mit einer Effektstärke nach Cohen von mehr als 1,2 bei Angst und 1,4 bei Depression (gegenüber etwa 0,3 mit Antidepressiva). Laut einer systematischen Übersichtsarbeit zu Ketamin [4] zeigt die Hälfte der behandelten Personen nach einem Monat ein Ansprechen, das heisst eine mehr als 50-prozentige Reduktion des Depressionsscores im PHQ-9-Fragebogen.
«Wohlgemerkt, diese Studien bewerten nicht die Wirkung der Substanz, sondern die der psychedelischen Therapie», so Katrin Preller, Spezialistin für neurobiologische Wirkungen von Betäubungsmitteln an der Universität Zürich. «Praktisch alle Studien haben ihre Wirkung bestätigt. Allerdings sind die Stichprobenumfänge mit wenigen Dutzend Teilnehmenden noch relativ klein. Wir müssen auf grösser angelegte klinische Studien der Phase 3 warten. Ich gehe davon aus, dass dort die Wirkung gegenüber den Ergebnissen der Metaanalysen geringer ausfallen wird – wie so oft, wenn die Studien grösser werden.» Eine umfassendere Studie [5] zu Psilocybin-Einzeldosen mit 233 Personen berichtete schwächere Effekte, wobei insbesondere das Ansprechen nach drei Monaten sich auf 20% der behandelten Personen reduzierte.

Das Placebo-Problem

Eine weitere Schwierigkeit bei klinischen Studien besteht darin, dass der Vergleich mit einer Placebo-Kontrollgruppe selten verblindet ist, da die Wirkungen eines Psychedelikums im Allgemeinen erkennbar sind. Die Kontrollgruppe erhält manchmal eine niedrige Dosis, die spürbare körperliche Wirkungen, jedoch keine veränderten Bewusstseinszustände hervorruft.
«Diese Frage ist aus klinischer Sicht nicht problematisch», meint Daniele Zullino. «Die Einnahme der Substanz dient als Impulsgeber für die Therapie. Ob dies teilweise auf einen Placebo-Effekt zurückzuführen ist, spielt keine Rolle. So verhält es sich auch bei den klassischen Antidepressiva.»
Die derzeitige Euphorie hat auch Kritik hervorgerufen [6]. Menschen mit hohem Leidensdruck könnten sich Hoffnung auf eine Wundertherapie machen, ohne sich der Risiken bewusst zu sein, gibt die britische Forscherin und Psychiaterin Joanna Moncrieff in Nature [7] zu bedenken. «Es gibt einen gewissen Hype, das ist klar», kommentiert Daniele Zullino. «Wir nehmen nur ein Fünftel der Leute auf, die uns kontaktieren. Viele sind mehr am Trip als an der Therapie interessiert.»

Was genau macht das Molekül?

Bleibt die Frage nach dem Wirkmechanismus. «Wir kennen einige der neurobiologischen Wirkungen von Psychedelika auf das Gehirn, ihre Wirkung in der Therapie dagegen kaum», sagt Katrin Preller. «Unsere Studien könnten dazu Erklärungen liefern.» Haupthypothese ist, dass die Erfahrung eines veränderten Bewusstseinszustandes neue Betrachtungsweisen ermöglicht und so zu einem therapeutischen Aha-Erlebnis führt. Denkbar wären auch Veränderungen am neurologischen Belohnungssystem, die beispielsweise über Serotonin, die Art und Weise der Emotionsverarbeitung oder aber die Normalisierung bestimmter Schaltkreise des Gehirns erfolgen könnten.
Die Psychologin führt derzeit zwei Untersuchungen mit jeweils 60 Personen zum Einsatz von Psilocybin bei der Behandlung von therapieresistenten Depressionen und Alkoholmissbrauch durch. Ihr Team untersucht sowohl die Auswirkungen auf die Therapie als auch die neurophysiologischen Effekte. Die Teilnehmenden füllen Fragebogen aus, unterziehen sich kognitiven Tests und verbringen eine Stunde in einem MRT-Scanner, der Veränderungen ihrer Gehirnaktivität dokumentieren soll. Die Substanz stelle nur einen Teil der Behandlung dar, betont Katrin Preller: «Wir wählen die Personen aus, bereiten sie vor und führen die Sitzung mit der psychotropen Substanz durch. Daran schliessen sich drei bis vier Therapiesitzungen mit sechsmonatiger Nachbeobachtung.»
Psychische Störungen sind ein riesiger Markt, der nach neuen Behandlungen hungert. Etwa fünfzig Unternehmen aus diesem Bereich sind an der Börse notiert, und 79 klinische und präklinische Studien werden derzeit von privaten oder nichtakademischen Organisationen durchgeführt, so der Verein Psychedelic Alpha. Obschon die gängigsten Psychedelika nicht patentierbar sind, schützen die Unternehmen bestimmte kristalline Anordnungen oder chemisch leicht abgewandelte Varianten. Damit schliesst sich gewissermassen der Kreis: 1947 brachte die Firma Sandoz in Basel LSD als Medikament für die Psychiatrie auf den Markt.

Die wichtigsten therapeutisch eingesetzten Betäubungsmittel

Psilocybin ist der wichtigste psychoaktive Wirkstoff halluzinogener Pilze und ist synthetisierbar. Es ist eines der am besten untersuchten Psychedelika für therapeutische Zwecke, insbesondere, weil es nicht süchtig macht und seine Wirkung nicht zu lange anhält (etwa 4 Stunden).
LSD hat eine Wirkdauer von etwa zehn Stunden; seine Integration in die Therapie ist anspruchsvoll. Wie Psilocybin führt LSD zu Bewusstseinsveränderungen, mit einer Verstärkung der Wahrnehmungen, des assoziativen Denkens oder der Affektivität.
MDMA, bekannt als Ecstasy, wurde insbesondere bei posttraumatischen Belastungsstörungen untersucht, namentlich bei Veteranen der US-Armee. Es kann zu Toleranz und Abhängigkeit führen, kardiovaskuläre Nebenwirkungen hervorrufen und ist nicht kompatibel mit serotoninbeeinflussenden Antidepressiva. MDMA erleichtert die Kommunikation, stärkt das Vertrauen und fördert Introspektion und Selbstakzeptanz.
Im Gegensatz zu diesen Substanzen ist Esketamin seit 2020 zugelassen. Dieses Ketamin-Enantiomer (Anästhetikum, Schmerzmittel sowie Freizeitdroge) kann zur Behandlung schwerer depressiver Episoden eingesetzt werden, mit acht Dosen, die über einen Zeitraum von einem Monat in Gegenwart eines Arztes eingenommen werden.
Die Wirkung von Cannabis gegen Depressionen ist nicht erwiesen; es kann jedoch bei somatischen Erkrankungen, insbesondere Multipler Sklerose, oder während einer Chemotherapie zur Linderung von chronischen Schmerzen, Krämpfen und Übelkeit sowie zur Verbesserung des Schlafes eingesetzt werden. Seine medizinische Anwendung ist seit dem 1. August 2022 zugelassen.
Man unterscheidet generell zwischen psychedelischen Therapien, die auf eine starke Erfahrung und wenig Intervention des Therapeuten während der Sitzung ausgelegt sind, und psycholytischen Therapien, in denen bei weniger hohen Dosen eine Interaktion mit dem Analytiker möglich ist.