Weshalb manche nicht wollen

Praxistipp
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21451
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):78-79

Publiziert am 01.02.2023

DigitalisierungWer die Digitalisierung der Medizin kritisiert, argumentiert oft mit dem Datenschutz. Dabei gibt es Möglichkeiten, Daten sicher zu übertragen. Wie das funktioniert – und warum manche Personen die Entwicklung trotzdem verzögern.
Sie haben es sicher selbst auch schon erlebt: Der Spezialist hat die gleichen Werte noch einmal abgenommen, medizinische Aufnahmen mussten wiederholt werden und Vorbefunde wurden höchstens ausgedruckt mitgebracht. Ein präziser und vollumfänglicher Blick auf den Krankheitsverlauf stellt sich meist ineffizient dar. Die Unzulänglichkeiten unseres Gesundheitssystems konnten wir während der Pandemie in Echtzeit mitverfolgen. Selten wurden so viele Daten gesammelt. Die Situation erforderte eine rasche Entscheidungsfindung zu weitreichenden Massnahmen. Gleichzeitig war die vorhandene Datenmenge eine einmalige Chance für medizinische Forschungsarbeit. Doch genaue, gebündelte Zahlen waren Mangelware, wurden nachkorrigiert und sogar geschätzt. Bedarfsplanung beispielsweise sowie Bereitstellung von Bettenkapazitäten waren schlicht unmöglich. Und bei der Datenerhebung in Echtzeit, wie bei der hausinternen Massentestung an der ETH, scheiterte die Übermittlung der aktuellen Zahlen ans BAG zu Beginn an der fehlenden Schnittstelle.
Gemessen daran sind wir noch glimpflich davongekommen. Trotzdem sollten wir diese Ausnahmesituation als Weckruf verstehen. Was in der Pandemie offensichtlich wurde, behindert uns im Gesundheitswesen auch im Alltag. Der fehlende Datenaustausch verzögert eine effektive Behandlung, beeinträchtigt die Abstimmung unter Spezialistinnen und Spezialisten, verursacht Mehrkosten und geht letztlich zulasten der Patientinnen und Patienten. Es wird breit über die Digitalisierung diskutiert. Das Thema ist im Gesundheitswesen und in der Politik angekommen, dennoch ist die Problematik nicht annähernd gelöst.
© Luca Bartulović

Geld und Mehrwert vorhanden

Am Geld kann es nicht liegen, denn seit Jahren fliessen grosse Summen in die Digitalisierung der Medizin. In Pilotprojekten wie der digitalen Pathologie oder im Verbund des «Swiss Personalized Health Network» wurde der Mehrwert digital verfügbarer Daten schon aufgezeigt. So haben Intensivmediziner des Inselspitals gemeinsam mit Experten der ETH gezeigt, dass kritische Veränderungen des Kreislaufs in vielen Fällen schon zwei Stunden früher vorhergesagt werden können – wenn die Daten digital vorliegen und verarbeitet werden.
Werte unterschiedlicher Quellen zusammenführen, Daten mit mehreren behandelnden Ärztinnen und Ärzten teilen, Behandlungsmuster analysieren – das sind allesamt Faktoren mit eindeutigem Mehrwert zum Nutzen der Patientinnen und Patienten. Doch woher kommt der Widerstand? Häufig wird der Datenschutz als Argument vorgeschoben. Und wenn das nicht reicht der Patientenschutz hinterher. Fehlende Datensicherheit, ein Dauerthema.
Dabei vertrauen wir unsere heikelsten Daten schon längst dem Internet an. Online-Überweisungen, Kontoführung sowie Kreditkartenabrechnungen machen wir im Alltag dank Zweifaktor-Authentifizierung und weiteren Sicherheitsmechanismen unserer Hausbank. Systeme wie HIN Secure oder die ETH-Lösung SCION demonstrieren, dass sicherer Datenaustausch auch in der Medizin möglich ist. Bei sehr vertraulichen Daten ermöglicht SCION beispielsweise den Aufbau besonders sicherer Verbindungen durch eine sorgfältige Auswahl des Datenpfades. Das bedeutet, dass Datenpakete mit SCION keine Umwege machen – wie es im heutigen Internet oft der Fall ist – und somit nicht unerwartet verloren gehen.

Digitalisierung mitgestalten

Wer hat also ein Interesse, dass nicht mehr Digitalisierung stattfindet? Wahrscheinlich jemand, der glaubt, dabei zu verlieren. Zum Beispiel könnten schnell doppelte und unnötige Untersuchungen erkannt werden, zu lange und schlechte Behandlungen, überhöhte Preise im System, teure Verschreibungsmuster. Doch in der Geschichte liessen sich unabwendbare Veränderungen nie dauerhaft aufhalten.
Daher lautet die richtige Frage: Wollen wir die Digitalisierung aus der Hand geben, zum Beispiel an grosse Internetfirmen, die hier Entwicklungen vorantreiben oder wollen wir sie selbst im Sinne der Patientinnen und Patienten gestalten? Und wer sollte hier die treibende Kraft sein?
Prof. Dr. med. Jörg Goldhahn
Der Direktor des Instituts für Translationale Medizin an der ETH Zürich schrieb diese Kolumne mit seiner Mitarbeiterin Anja Finkel.