Fehler im System

Wissen
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21452
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):76-77

Publiziert am 01.02.2023

IT-InfrastrukturSie sind mühsam in der Anwendung, führen ins Burn-out und gefährden die Patientensicherheit: Der Forscher David Schwappach kennt die Schwachstellen von Klinikinformationssystemen und erklärt, weshalb er trotzdem nicht zurück zur Papierakte will.
David Schwappach, Sie untersuchen die Patientensicherheit von Klinikinformationssystemen, kurz: KIS. Viele dieser elektronischen Systeme können laut Ihrer Forschung ein Risiko für die Patientensicherheit darstellen. Wie kann das sein?
Es gibt drei Wege, wie KIS die Patientensicherheit gefährden können. Der erste ist ein ganz direkter. Durch eine mangelhafte Benutzeroberfläche kann es etwa vorkommen, dass man sich leicht verklickt. Bei einem Medikament mit einem langen Namen kann zum Beispiel ein Teil des Namens auf dem Bildschirm abgeschnitten sein. In solch einem Fall verordnen Sie aus Versehen statt der Tablette eine Infusion.
Was ist der zweite Weg, der die Sicherheit gefährden kann?
Die meisten Fehler führen natürlich nicht zu einer Patientenschädigung. Aber zu viel unnötiger Unruhe im System. Das ist der zweite Weg, auf dem die Sicherheit gefährdet werden kann. Wenn eine Pflegefachfrau eine Medikamentenverordnung bekommt, die ihr seltsam erscheint, dann muss sie den Arzt oder die Ärztin kontaktieren. Alle Beteiligten werden dadurch aus der Arbeit gerissen. Durch viele Unterbrechungen entstehen dann neue gefährliche Situationen.
Und der dritte Weg?
Studien aus den USA zeigen, dass schlecht designte KIS Burn-out und Erschöpfung von Fachpersonen begünstigen [1], wodurch der Fachkräftemangel verschärft wird. Wenn es kein oder vor allem erschöpftes Personal gibt, ist das nicht gut für die Patientensicherheit.
Wodurch entsteht die Erschöpfung?
Die Systeme bilden oft nicht die Arbeitsprozesse der Ärztinnen und Ärzte ab. Es ist einfach mühsam, wenn Sie erst durch 80 Medikamente scrollen müssen, bis Sie finden, was Sie verordnen wollen. Durch gutes Design von KIS könnte man da einiges rausholen.
Klinikinformationssysteme sind noch nicht so sicher, wie sie sein könnten.
© Andras Vas / Unsplash
Was ist denn so schwierig daran, eine gute Benutzeroberfläche zu gestalten?
Es ist recht teuer, die Oberflächen entsprechend der Forschung zu optimieren. Das ist das eigentliche Problem. Und das Investment lohnt sich für die Hersteller vielleicht auch nicht, weil der Wettbewerb nur begrenzt funktioniert. Wenn sich ein Spital einmal für ein KIS entschieden hat, dann ist es sehr aufwendig, wieder zu wechseln.
Würden Usability Standards helfen, die jedes System zwingend erfüllen muss?
Ja, die gibt es zum Teil. Aber sie sind nicht zwingend vorgesehen und es fehlen die Anreize.
Ist Schweizer Spitälern bewusst, dass KIS ein Problem für die Patientensicherheit darstellen können?
Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachpersonen wissen, was mühsam und gefährlich ist. Ich bin aber nicht sicher, ob das den leitenden Stellen im Management bekannt ist.
Ärztinnen und Ärzte verwenden zum Teil mehrere KIS und Papierakten für nur eine Person. Welche Auswirkungen hat solch eine Fragmentierung?
Das sehen wir typischerweise in sehr spezialisierten Organisationseinheiten wie onkologischen Ambulatorien [2]. In den KIS existieren oft Informationsinseln und es ist sehr viel aktive Arbeit nötig, um die anderen Informationsinseln zu finden. Dem Arzt oder der Ärztin wird zum Beispiel nicht angezeigt, dass der Patient einen Tag vorher im selben Spital in einer anderen Sprechstunde war. Sie müssen selbst drauf kommen oder die Patientin fragen. Und das ist gefährlich.

Elektronische Systeme in Schweizer Spitälern

92% der Schweizer Spitäler nutzen laut dem aktuellen eHealth Barometer [4] elektronische Systeme zur Speicherung und Verwaltung von Patientendaten. 52% der Spitalärztinnen und -ärzte sind laut der Befragung sehr oder eher zufrieden mit den Klinikinformationssystemen, 29% sind eher nicht oder gar nicht zufrieden und 20% haben kein Urteil über ihre Zufriedenheit abgegeben. Die Hauptgründe für die Unzufriedenheit: Die Funktionalität des Systems sei nicht ausreichend (81%), das System sei zu kompliziert (63%) und zu langsam (63%).
Ist das im Design so angelegt oder hat das mit Bedienfehlern zu tun?
Das ist im Design so angelegt und hat damit zu tun, dass es verschiedene Softwarelösungen in den Häusern gibt. Die Schnittstellen sind zum Teil katastrophal. Zudem folgen die Softwarelösungen zum Beispiel einer Abrechnungslogik. Lange Behandlungen werden dabei in unterschiedliche Fälle geschnitten, obwohl es sich um dieselbe Patientin handelt. Darüber hinaus ist es einfach absurd, wenn die ärztliche Dokumentation und die Pflegedokumentation nicht in einem System sind, sondern zwei KIS genutzt werden.
Sie forschen weiter zu KIS und Patientensicherheit. Was untersuchen Sie derzeit?
In einer aktuellen Studie gemeinsam mit Kollegen vom Inselspital untersuchen wir beispielsweise auf dem Notfall, welche Faktoren Patientenverwechslungen beim elektronischen Verordnen begünstigen. Eine wichtige Baustelle ist für mich auch die Entwicklung von standardisierten Testverfahren zur Beurteilung von KIS hinsichtlich ihrer Patientensicherheits-Performance. Eine weitere Frage betrifft die Dokumentation im KIS. Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachpersonen erzeugen eine Informationsflut, die für sie selber nicht mehr verarbeitbar ist. Aus Studien in den USA wird ersichtlich, dass die ausufernde Dokumentation auch daran liegt, dass immer wieder Textfragmente kopiert und an anderer Stelle wieder eingefügt werden [3].
Betrifft das ein Kopieren von einer Informationsinsel zur nächsten?
Nein. Das sind Textfragmente, die in ein und demselben Dokument mehrfach auftauchen und die es der folgenden Fachperson erschweren, sich ein Bild vom Patienten zu machen. Ich will wissen: Ist das in der Schweiz auch so? Vermutlich ja. Was können wir machen, damit das besser wird? Gute, sichere Praktiken zum Arbeiten im KIS müssen genauso definiert und gelernt werden wie steriles Arbeiten oder eine gute Übergabe bei Dienstwechseln.
Klingt insgesamt, als bringe die Digitalisierung vor allem Nachteile.
Nein, überhaupt nicht, vorher war auch vieles problematisch. Meine These ist nicht, dass die Behandlung insgesamt unsicherer wird, wenn wir von analog auf digital wechseln. Meine These ist, dass sie viel sicherer werden könnte als das, was wir im Moment schaffen. Ich werde oft gefragt, ob ich zurück zum Papier will.
Und, wollen Sie?
Die Frage stellt sich mir nicht. Wenn ich sage, der Herd in der Küche ist gefährlich, weil er sich durch einfaches Handauflegen anschalten lässt, dann heisst das ja nicht, dass ich für offenes Feuer in der Küche bin. Dann heisst das, ich bin dafür, dass dieser Herd sicherer wird.
Prof. Dr. David Schwappach, MPH
Leiter des Forschungsschwerpunkts Patientensicherheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern
1 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34233369/
2 journals.lww.com/journalpatientsafety/Abstract/2021/12000/Patient_Safety_Threats_in_Information_Management.153.aspx
3 Steinkamp J, Kantrowitz JJ, Airan-Javia S. Prevalence and Sources of Duplicate Information in the Electronic Medical Record. JAMA Netw Open 2022;5(9):e2233348–e2233348
4 e-healthforum.ch/studienergebnisse-2021/