Es lebe die Einzelpraxis

Forum
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21465
Schweiz Ärzteztg. 2023;(19):20

Publiziert am 10.05.2023

Selbstständigkeit Nachhaltige Patientenbetreuung, kreative Arbeitsgestaltung, Selbstverwirklichung – eine Einzelpraxis bringt viele Vorteile mit sich. Dennoch werden oft die Nachteile in den Fokus gerückt. Höchste Zeit, über dieses Betriebskonzept zu sprechen, findet Felix Schürch.
Die Einzelpraxis wird regelmässig totgesagt. Sie wird als «Auslaufmodell» abgeschrieben, der Inhaber als «Einzelkämpfer» bemitleidet. Kein Wunder also, dass Ärztinnen und Ärzte zögern.
Dabei hat bereits vor zehn Jahren der Basler Hausarzt und Psychosomatiker Pierre Loeb in einer lesenswerten Übersicht die spezifischen Vorteile der Einzelpraxis in der Fachzeitschrift Primary and Hospital Care vorgestellt [1]. Er hat aufgezeigt: Das Geschäfts- und Arbeitsmodell «Einzelpraxis» ist praktikabel und attraktiv – jedenfalls in einer städtischen Umgebung. Doch Vorurteile und Mythen mit abschreckender Wirkung kursieren weiter. Ich will, basierend auf meinen Erfahrungen als «Einzelkämpfer», vier dieser Mythen hinterfragen und relativieren.
Die eigene Arbeitswelt gestalten, so wie man es möchte: Mit einer Einzelpraxis ist das möglich.
© Ginasanders / Dreamstime

1. Mythos: Rund um die Uhr da sein

Stimmt nicht! Im Notfall findet der Patient oder die Patientin immer einen Weg. In Zürich beispielsweise gibt es mehr als genug Anlaufstellen: den ärztlichen Notfalldienst, die SOS-Ärztinnen und -ärzte, fast in jedem Quartier eine Permanence, die Notaufnahmen der öffentlichen Spitäler und der Privatkliniken – ein luxuriöses Überangebot! Und wenn von meinen Patienten und Patientinnen jemand an der Schwelle zum Tod ist, betreut von den Angehörigen, der Spitex und von mir als Hausarzt, lege ich das Handy auf den Nachttisch. Diesen Dienst tut man gerne, ein solcher Einsatz bringt auf eigene Weise eine Befriedigung.

2. Mythos: Sofort Termine erhalten

Ja und nein. Journalisten der Neuen Zürcher Zeitung fragten einen altgedienten Grundversorger, ob die Patientinnen und Patienten den klassischen Hausarzt, die klassische Hausärztin vermissen werden. Seine Antwort: «Viele nicht, denn sie wissen gar nicht mehr, was der Vorteil der Hausarztmedizin ist. Ein Banker sagte mir kürzlich, ihm sei es egal, wer ihn untersuche. Hauptsache, er bekomme am selben Tag einen Termin. Damit gehen aber die ganzheitliche Erfassung über einen längeren Zeitraum und das Vertrauensverhältnis verloren» [2]. Erkrankte mit chronischen und belastenden Problemen sind geduldiger. Ihnen kommt es nicht auf den Tag an, wichtig ist für sie das Gespräch in ruhiger Atmosphäre mit ihrer medizinischen Vertrauensperson. Und bei einem medizinischen Notfall bekommt man auch in der Einzelpraxis sofort einen Termin. Die medizinische Praxisassistentin, der medizinische Praxisassistent (MPA) macht als Fachperson eine Erstbeurteilung nach medizinischen Kriterien und achtet dabei auf die «Red Flags» [3].

3. Mythos: Fachlicher Austausch fehlt

Stimmt nicht! Es gibt den täglichen Gedankenaustausch mit den MPAs: Das sind Gespräche mit Profis. Mit Menschen mit Lebenserfahrung und einem eigenen Blick auf die Patientinnen und Patienten. Dazu kommen die Kontakte mit den Spezialistinnen und Spezialisten, mit denen man zusammenarbeitet. Dieses Netz ist nichts anderes als eine virtuelle Grosspraxis. Und schliesslich gibt es die Intervision, den Qualitätszirkel, die Balintgruppe. Das sind Orte, in denen man mit Distanz zum Alltag den fachlichen Austausch – kontinuierlich und vertrauensvoll – pflegen kann.

4. Mythos: Betriebsführung ist aufwendig

Stimmt! Damit muss man rechnen. Aber die Forschung zeigt: «Selbstständige arbeiten mehr Stunden und härter als abhängig Beschäftigte. Ausserdem beziehen sie im Durchschnitt ein geringeres Einkommen und sind einem höheren Risiko ausgesetzt. Dennoch bezeichnen sich Selbstständige als glücklicher.» [4]
Mit der Anstellung in einer Grosspraxis wird eine ausgewogene «Work-Life-Balance» propagiert. Das trendige Schlagwort suggeriert einen Gegensatz zwischen Arbeit und Leben. Wer aber eine Einzelpraxis führt, gestaltet seine Arbeitswelt nach eigenem Gusto. Mit einem Team selbst ausgewählter Angestellten. Mit Patientinnen und Patienten, mit denen er oder sie eine langjährige Beziehung aufbauen und pflegen kann. Die Grenzen zwischen Arbeit und Leben lösen sich auf. Konfuzius, der Denker im alten China, fasste es so zusammen:«Wenn du liebst, was du tust, wirst du nie mehr in deinem Leben arbeiten.»
Dr. med. Felix Schürch, Hausarzt, Zürich
1 Loeb P. Die Einzelpraxis – wirklich ein Auslaufmodell. Prim. Hosp. Care 2013;13(10):174–6.
2 Hehli S, Tribelhorn M. Herr Marchev, wann soll ich zum Doktor. NZZ vom 20.4.2022.
3 Schürch F. Notfälle in der Hausarztpraxis – Von Allergie bis Zeckenbiss. 2. Aufl. Bern: Hogrefe; 2018, S. 10–4.
4 Frey B. Wirtschaftswissenschaftliche Glücksforschung. Springer Gabler. Wiesbaden: Springer Gabler; 2017, S.42.