Im Würgegriff fossiler Energie

Praxistipp
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21493
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(07):62-63

Publiziert am 15.02.2023

Nachhaltigkeit Erdöl schadet der Gesundheit. Dennoch fördern die Konzerne weiterhin fossile Brennstoffe. Wissenschaftler haben nun den Einfluss der Ölriesen auf den Klimawandel untersucht: Sollte die Ärzteschaft sie genauso bekämpfen wie die Tabakindustrie?
Der Klimawandel schadet der Gesundheit massiv. Daran erinnert seit 2016 der jährliche «Lancet-Countdown»-Bericht, dessen neueste Ausgabe im November 2022 erschienen ist [1]. Die Nachrichten sind, gelinde gesagt, nicht sehr erfreulich. Demnach zeigen die klassischen Indikatoren, dass die klimatischen Bedingungen die Zunahme von Infektionskrankheiten wie Malaria oder Cholera immer stärker begünstigen. Insgesamt steigen die Treibhausgasemissionen weiter an – auch im Gesundheitssektor: 2019 um 5% gegenüber dem Vorjahr. Und dies trotz des in den vergangenen Jahren stark gewachsenen Bewusstseins im Gesundheitswesen.

Die Farce der Ölindustrie

Besonders interessant ist aber auch ein neuer Indikator: das Erdöl. Der neue Bericht untersucht die Produktionsstrategien der grossen Mineralölkonzerne mit Blick auf das Pariser Abkommen. Mit Bestürzung − wenn auch keineswegs überrascht − stellt man fest, dass kein Mineralölkonzern ernsthaft plant, bis 2040 die Gewinnung fossiler Brennstoffe zu reduzieren, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Dabei ist längst bekannt, dass Erdöl unter vielerlei Aspekten gesundheitsschädlich ist. Erstens wegen der vielen chemischen Komponenten, die direkt toxisch für den Menschen sind. Zweitens durch die bei seiner Verbrennung entstehenden Emissionen von Feinstaub der Partikelgrösse PM2,5, die im Jahr 2020 für 1,2 Millionen vorzeitige Todesfälle verantwortlich waren (ebenfalls ein Indikator des Lancet Countdown).
Drittens zeigt uns dieser neue Indikator zu den Produktionsstrategien für fossile Energien, dass Erdöl, indem es zum Klimawandel beiträgt, auch die Gesundheit beeinträchtigt. Das lenkt unser Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen Gesundheit und umweltrelevanten menschlichen Aktivitäten, in diesem Fall den CO2-Emissionen. Man stösst schliesslich nicht alle Tage auf medizinisch-wissenschaftliche Publikationen, welche die lange Kausalitätsreihe zurückverfolgen und die für Schäden verantwortlichen Unternehmen benennen. «Die Gesundheit ist den fossilen Brennstoffen ausgeliefert», schlussfolgert der Lancet. Damit stehen die multinationalen Ölkonzerne als Mitverantwortliche für die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels am Pranger.
Die Methoden dieser Unternehmen erinnern übrigens an die der Tabakindustrie, die mit allen Mitteln (einschliesslich politischer) seit jeher versucht, Studien, welche die schädliche Wirkung des Rauchens belegen, zu diskreditieren. Die Tatsache, dass die nächste UN-Klimakonferenz (COP 28) unter dem Vorsitz des CEO eines Ölkonzerns der Vereinigten Arabischen Emirate stattfindet, mutet daher an, als würde der Direktor eines multinationalen Tabakkonzerns die WHO leiten. Interessant ist der Indikator Erdölproduktion letztlich deshalb, weil er unsere Rolle als Gesundheitsfachpersonen und unsere Aufgabe im Gesundheitswesen in Frage stellt. Müssen wir nun die Ölkonzerne bekämpfen, wie wir schon die Tabakriesen bekämpft haben?
© Luca Bartulović

Mehr Hitze, mehr Hass

Die Erderwärmung hat auch erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Eine im Jahr 2022 in den USA durchgeführte Studie analysierte vier Milliarden «Tweets» in Abhängigkeit von ihrer Geolokalisation und der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dort herrschenden Temperatur [2]. Es gab mehr Hassbotschaften, als die Temperatur über 25 °C stieg respektive unter 10 °C sank. Fast ironisch folgerten die Autoren, der Mensch passe sich äusserst schlecht an Temperaturunterschiede an. Ein relevantes Ergebnis, weil sich genau diese Unterschiede tendenziell verschärfen. Das verheisst definitiv nichts Gutes!
Prof. Dr. med. Nicolas Senn
Leiter der Abteilung Hausarztmedizin bei Unisanté und Co-Leiter der Plattform «Durabilité et santé» (Nachhaltigkeit und Gesundheit) der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne
1 Romanello M, et al. The 2022 report of the Lancet Countdown on health and climate change: health at the mercy of fossil fuels. The Lancet. 2022;400(10363): p. 1619–54.
2 Stechemesser A, Levermann A, and L. Wenz. Temperature impacts on hate speech online: evidence from 4 billion geolocated tweets from the USA. The Lancet Planetary Health. 2022;6(9): p. e714–e725.