Die fetten Jahre sind vorbei

Hintergrund
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21509
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):12-14

Publiziert am 22.02.2023

Fehlende Fachkräfte Die Schweiz ist in Aufregung. Denn das Land braucht mehr Lehrerinnen und Lehrer. Ein Blick auf eine andere Branche mit ähnlichen Schwierigkeiten wie es sie im Gesundheitswesen gibt.
Wenn die Gastronomie Köchinnen sucht, ist die Öffentlichkeit nicht alarmiert. Man wartet halt im Restaurant ein wenig länger als sonst auf die Bestellung oder isst daheim, bis der Arbeitsmarkt sich erholt hat. Wenn aber in der Primarschule zu wenig Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stehen, dann ist die Aufregung gross – wie seit letztem Sommer.
Niemand will seine Kinder in die Obhut von unqualifiziertem oder überfordertem Personal geben. Sie könnten ja in der Schule Schaden nehmen, befürchtet man, und wenn sie schlecht ausgebildet sind, wird sich das negativ auf das ganze Land auswirken. Der Mangel an Lehrpersonen trifft den Nerv der Öffentlichkeit, wie die Knappheit an Ärztinnen und Ärzten (siehe Kasten): Es geht um nichts weniger als um unsere Kinder, unsere Gesundheit und Zukunft. Medien und Politik mischen denn auch an vorderster Front an den Diskussionen um die Missstände mit.
Dirty table after birthday party
Abgeräumt: Auch auf dem Arbeitsmarkt ist nichts und niemand mehr zu holen.
© Colby Lysne / Dreamstime

Defizit mit Ansage

Was den «Lehrermangel» besonders macht: Es gibt ihn, obschon er prognostizierbar ist. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder festzustellen, ist nicht schwierig; akute Schwankungen, wie sie etwa durch die mit ihren Eltern in die Schweiz geflüchteten ukrainischen Kinder hervorgerufen wurden, sind einfach zu integrieren. Komplizierter zu berechnen ist die Anzahl der aktiven Lehrpersonen. Nicht alle frisch Diplomierten arbeiten in ihrem Kanton und auf ihrem Beruf, manche Lehrpersonen wechseln innerhalb des Bildungssystems die Stufe, immer mehr arbeiten Teilzeit oder lassen sich frühpensionieren, je nach Kontostand und Stimmungslage.
Diese Schwierigkeiten schrecken Statistiker und Statistikerinnen nicht ab. Der Bedarf an Lehrpersonen wird nicht nur von kantonalen Ämtern berechnet, sondern auch vom Bundesamt für Statistik (BFS). Gemäss dessen Szenarien braucht die Schweiz bis 2031 rund 45 000 neue Primarlehrerinnen und Primarlehrer, und bis dann werden die Pädagogischen Hochschulen rund 34 000 Lehrdiplome ausgestellt haben [1]. Der Mangel beträgt also jährlich 1000 Personen. Er wäre damit sogar etwas grösser als letzten Sommer, als rund 700 Personen fehlten.
Das klingt dramatisch, doch das BFS gibt Entwarnung: Das Defizit werde gedeckt durch die Anstellung von Lehrkräften mit einer Ausbildung für andere Stufen sowie durch Studierende, die bereits ins Berufsleben einsteigen. Die Situation werde nur in der Nordwestschweiz virulent bleiben, im Tessin werde sie sich entspannen. Nimmt man die Massnahmen dazu, die etwa der Kanton Zürich ergriffen hat, nämlich die Einführung neuer Studiengänge für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, scheint der Bedarf so gut wie gedeckt.

Ab wann liegt ein Mangel vor?

Das ist wohl zu positiv prognostiziert. Der nächste «Lehrermangel» kommt bestimmt – und auch die nächste «Lehrerschwemme». Der Berner Erziehungswissenschaftler Gottfried Hodel zeigt in seiner 2005 publizierten Studie, dass das Schweizer Schulwesen zwischen 1848 und 2000 von nicht weniger als acht Mangel- und Überflusszyklen erfasst wurde [2]. Einschneidend waren die frühen 1960er Jahre, als aufgrund eines Defizits erstmals die Massnahme ergriffen wurde, die auch jetzt wieder zum Einsatz kommt: die Rekrutierung von Quereinsteigerinnen und Pensionierten. Zudem richteten die Kantone Bildungsplanungsstellen ein. Am Ende des Jahrhunderts wurden schliesslich die kantonalen Lehrerseminare in die zentralisierten Pädagogischen Hochschulen überführt. Diese erhöhten nicht nur die Professionalisierung der Ausbildung der Lehrberufe, sondern erlaubten der Bildungspolitik, die quantitative Entwicklung des Berufsfelds besser im Auge zu behalten.
Und doch herrscht wieder Mangelzeit. Wieso? «Alle reden vom sogenannten Lehrermangel, aber es ist nicht geklärt, was damit gemeint ist», sagt Jakob Kost. Der Zürcher Erziehungswissenschaftler, der zurzeit als Gastforscher an der Universität Toronto weilt, fragt zurück: «Ab wann liegt ein Mangel vor? Auch das ist nicht geklärt. Die hundertprozentige Deckung von Bedarf und Angebot an Lehrkräften gibt es nicht. Man könnte ja auch sagen: Ein Mangel besteht nur dann nicht, wenn ein Überfluss vorliegt – wenn die Schulleiterin aus mehreren Kandidaten den besten auswählen kann. Nur so nämlich erfüllt sie den Qualitätsanspruch der Schule.»
Kost betont, dass der Begriff Lehrermangel «politisch vorgeformt» sei, doch dies verschwinde hinter den Zahlen. Beim Defizit geht es um Politik, um Vorstellungen darüber, wie die Schule zu gestalten sei.
Am Anfang des aktuellen Lehrermangels stand ein politischer Akt: eine Medienkonferenz. Bern, 8. August 2022: Der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz (LCH) verkündet zusammen mit der Schwesterorganisation der Romandie, dass in der Volksschule mehrere hundert Stellen unbesetzt seien. In vielen Schulen herrschten Verzweiflung und Not, sagt der LCH, nötig sei ein Krisenstab und die Überwindung der föderalistischen Bildungspolitik. Tags darauf ist der Lehrermangel in allen Medien. Die Neue Zürcher Zeitung kommentiert, Schuld sei das «verkopfte egalitäre Konzept der integrativen Schulung», die zur Überforderung der Lehrpersonen führe. Als Gegenmassnahme verlangt die NZZ finanzielle Anreize für Lehrpersonen, die Vollzeit statt Teilzeit arbeiten.
Einige Wochen später fordert der LCH nicht nur höhere Löhne, damit der Lehrberuf wieder attraktiv werde (obschon Zürich, einer der am stärksten vom Mangel betroffenen Kantone, schweizweit die höchsten Löhne zahlt). Er beschuldigt die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK), einmal mehr nichts gegen die Misere zu unternehmen. Auf Anfrage weist die EDK die Vorwürfe zurück: Nicht sie, sondern die Kantone und Gemeinden seien für die Besetzung der Lehrstellen zuständig, sie aber habe das «Diplomanerkennungsrecht» weiterentwickelt, das Quereinsteigern das Ergreifen des Lehrberufs erleichtere.

Autonomie der Individuen und Hochschulen

Die statistischen Methoden sind in den vergangenen Jahren verbessert worden, doch sie weisen Grenzen auf. Das BFS weist darauf hin, dass es zu den Lehrpersonen auf Sekundarstufe keine Prognosen machen könne, weil diese mehrere Ausbildungen absolvierten und viele Fächer unterrichteten. Zudem kann selbst die beste Statistik keine wirtschaftlichen Konjunkturen voraussagen. Wenn Lehrerinnen und Lehrer plötzlich in Branchen gefragt sind, die hohe Löhne zahlen, oder das Image des Berufs sich verschlechtert – wie gegenwärtig –, steigt oder sinkt die Anzahl Lehrpersonen.
Doch selbst wenn die Statistik perfekt wäre: Sie lässt sich nicht einfach so auf die Bildungsplanung übertragen. Am Ende entscheiden die Individuen, welchen Beruf sie ergreifen. Der Zürcher Bildungsforscher Lucien Criblez hielt 2017 in einem Aufsatz fest, der Staat trage die Verantwortung, dass die Volksschulen von den Pädagogischen Hochschulen mit gut ausgebildetem Personal versorgt würden, aber er müsse die Autonomie der Hochschulen respektieren [3]. Diese hätten ihre eigenen Qualitätsvorstellungen. Criblez sprach vom «Risiko der Übersteuerung». Es ist dann gegeben, wenn staatliche Interventionen prozyklisch statt antizyklisch wirken, wenn also Massnahmen gegen den Mangel an Lehrpersonen zu deren Arbeitslosigkeit führt. Das ist in der Geschichte der Volksschule mehr als einmal passiert.

Der Ärztemangel ist schwieriger prognostizierbar

Der Schweiz fehlen nicht nur Lehrpersonen auf Volksschulstufe, sondern auch Ärztinnen und Ärzte. Auch der Ärztemangel wird von der Statistik seit Jahren prognostiziert. Er ist aufgrund der vielen Spezialarztberufe und aus dem Ausland kommenden Ärzte schwieriger zu berechnen als das Defizit an Primarlehrpersonen. Dass der Ärztemangel nicht aus dem Ruder läuft, ist einzig und allein den ausländischen Fachkräften zu verdanken. In den vergangenen zehn Jahren machten sie 74 Prozent der neuen Ärztinnen und Ärzte aus, wie Nora Wille und Yvonne Gilli 2023 in der Schweizerischen Ärztezeitung festhielten [4]. Dabei will die Gesundheitspolitik die Auslandabhängigkeit seit längerem verringern.
1 BFS Aktuell, 15 Bildung und Wissenschaft, Oktober 2022, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/szenarien-bildungssystem/obligatorische-schule-lehrkraefte.assetdetail.22806575.html
3 Lucien Criblez: Lehrerinnen- und Lehrermangel in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren – Phänomen, Massnahmen, Wirkungen, in: Catherine Eve Bauer, Christine Bieri Buscher, Netkey Safi (Hg.): Berufswechsel in den Lehrberuf. Neue Wege der Professionalisierung, Bern 2017, S. 23-38.
4 saez.ch/article/doi/saez.2023.21366