«Unser Ziel ist, das europaweit beste Fachwissen anzubieten»

Wissen
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21525
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):76-77

Publiziert am 22.02.2023

E-Learning Jederzeit und an jedem Ort die chirurgischen Kenntnisse verbessern: Das soll eine kostenlose Online-Lernplattform des Universitätsspitals Zürich (USZ) möglich machen. Mitinitiator Pierre-Alain Clavien erklärt im Interview, wie dieses E-Learning funktioniert.
Mit der «European School of Surgery» hat das USZ für 2023 die Einführung einer Online-Lernplattform angekündigt, die angehenden Chirurginnen und Chirurgen weltweit zugänglich sein wird. Pierre-Alain Clavien, was bietet die Plattform und was ist ihr Zweck?
Wir haben festgestellt, dass es den Chirurginnen und Chirurgen in Ausbildung innerhalb und ausserhalb der Schweiz oft an theoretischen Grundkenntnissen mangelt. Daher haben wir vor über zehn Jahren ein Kurrikulum erarbeitet, das alle Gebiete der Allgemeinchirurgie abdeckt und aus Vorträgen besteht, die jeden Dienstag von einer Assistenzärztin oder einem Assistenzarzt des USZ gehalten werden. Das Thema wird unter der Aufsicht eines Experten vorbereitet, der die wichtigsten Punkte am Ende der Präsentation zusammenfasst. Danach folgt eine Diskussion mit allen Mitgliedern der Abteilung. Das Konzept ist intern auf grosse Resonanz gestossen, was uns veranlasst hat, die Vorträge zu filmen und sie kostenlos auf YouTube zur Verfügung zu stellen.
Dadurch wuchs die Reichweite des Projekts enorm.
Ja. Zunächst wollten wir wissen, welches Echo diese Präsentationen auf YouTube haben. Es zeigte sich, dass ein sehr breites Publikum sie anschaute, darunter Tausende von Menschen ausserhalb der Schweiz. Ausgehend von einer Umfrage unter Nutzern aus 106 Ländern [1] kam uns die Idee für eine neue Lernplattform. Denn die überwiegende Mehrheit der Befragten berichtete über eine sehr positive Lernerfahrung.

Das sagt die Fachgesellschaft

Prof. Christian Toso, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie, betont, dass die Plattform «ein breites Spektrum an Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Themen der Chirurgie bietet» und eine «grosse Reichweite» habe. Er hebt «die Qualität der Präsentationen» hervor und begrüsst es, dass eine «frei zugängliche Plattform» eingerichtet werden konnte. «Über diesen Erfolg hinaus ist es wünschenswert, dass ähnliche, miteinander koordinierte Lehrveranstaltungen von anderen Institutionen eingerichtet werden, um das Angebot zu erweitern und die Besonderheiten in der Behandlung der jeweiligen chirurgischen Ausbildungsstätte zu veranschaulichen», sagt Toso.
Das Angebot schliesst also eine Lücke?
In der Schweiz werden viele Assistenzärztinnen und -ärzte in peripheren Spitälern ausgebildet, in denen der Zugang zu neusten Erkenntnissen eingeschränkt ist. Mit dem umfassenden Kurrikulum können Chirurgen in Ausbildung ortsunabhängig auf das jeweils fehlende Fachwissen zugreifen. Das Kurrikulum wird alle zwei Jahre erneuert und ist meines Wissens einzigartig.
Warum genügte der YouTube-Kanal nicht, um ein internationales Publikum zu erreichen?
Die vielen positiven Rückmeldungen aus dem Ausland haben uns dazu bewogen, das Projekt professioneller zu gestalten. Eine Plattform wie YouTube ist zwar kostenlos, aber wenig flexibel und enthält Werbeinhalte, die nichts mit der Ausbildung oder der Chirurgie zu tun haben. Wir sind bestrebt, eine «seriöse» Plattform zu schaffen, die allen – auch Menschen in Entwicklungsländern – das gesamte Kurrikulum kostenlos zur Verfügung stellt. Die Ergebnisse der internationalen Umfrage haben wir am Kongress der European Surgical Association (ESA), der führenden Organisation für akademische Chirurgie in Europa, vorgestellt [2]. Das kam sehr gut an und wir wurden ermutigt, eine gemeinnützige Online-Lernplattform für Chirurgie unter der Schirmherrschaft der ESA zu entwickeln.
Aber auch die zukünftige Plattform muss finanziert werden. Wie soll das gehen?
Die Liver and Gastrointestinal Disease Foundation wird das Projekt finanziell unterstützen und als juristische Person die Unabhängigkeit und Gemeinnützigkeit gewährleisten.
Wie wird die Plattform konkret aussehen?
Sie wird etwa 140 Videos des Kurrikulums für Allgemeinchirurgie beinhalten, die alle zwei Jahre erneuert werden. Wöchentlich kommt eine neue 20- bis 30-minütige Präsentation zu einem bestimmten Thema hinzu, um alle Themen der Allgemeinchirurgie abzuhandeln. Es wird eine Art E-Learning-Plattform sein, auf der alle Nutzer jederzeit die gewünschten Präsentationen auf dem Computer, Tablet oder Mobiltelefon ansehen können. Wir werden jedoch keine rein technischen Videos zu bestimmten Operationsmethoden anbieten; solche findet man bereits auf anderen Websites, insbesondere bei chirurgischen Fachgesellschaften.
Um ein guter Chirurg zu sein, muss man die Theorie beherrschen. Dies ist bei Chirurginnen und Chirurgen in der Ausbildung oft nicht der Fall.
© Anna Jurkovska / Dreamstime
Die Plattform heisst «European School of Surgery». Welche Universitäten werden mitmachen?
Das USZ bleibt natürlich Vordenker, doch die neue Plattform ist ein akademischer Auftrag der ESA, die auch als Qualitätsgarantin dient. Weitere europaweit anerkannte akademische Chirurgiezentren werden das Kurrikulum der Plattform abrunden, um das beste in Europa verfügbare Fachwissen zu bündeln. Sie erstellen ihrerseits Präsentationen im gleichen Format und bringen ihr Know-how in den diversen Teilgebieten der Chirurgie ein. Im Moment beschränken wir uns auf Europa, werden die Beteiligung aber wahrscheinlich auf andere Länder ausweiten, insbesondere auf Entwicklungsländer, die Präsentationen zu Operationen mit eingeschränkteren Mitteln beisteuern können.
Bestehen bereits konkrete Partnerschaften?
Wir sind dabei, dieses Netzwerk über die ESA aufzubauen. Ziel ist es, in den kommenden Monaten fünf bis zehn Zentren zu rekrutieren. Infrage kommen nur Spitzenzentren. Die Qualität der Inhalte wird dem akademischen Standard der ESA entsprechen und das Kurrikulum wird von einem internationalen Gremium überwacht werden.
Soll eine Abschlussprüfung eingeführt werden?
Momentan noch nicht. Die Idee eines Online-Tests ist für Länder interessant, denen die entsprechende Prüfungsinfrastruktur fehlt. Dazu bräuchten wir die Zustimmung des europäischen Facharztverbands European Union of Medical Specialists, der sich mit diesen Zertifizierungen befasst. Das ist aber geplant.
Ende Januar haben Sie das USZ verlassen. Was ändert sich dadurch an dem von Ihnen initiierten Projekt?
Nichts, da es sich jetzt um ein europäisches Projekt handelt. Wir haben eine Vereinbarung mit dem USZ für die Verwendung der bisherigen Präsentationen getroffen. Die Vorträge für das chirurgische Kurrikulum werden unter Professor Christian Gutschow, dem Leiter der Abteilung für gastroösophageale Chirurgie, fortgesetzt.
Trotzdem ist es ein guter Werbecoup für das USZ ...
Das war nicht unser Ziel, auch wenn es zutrifft. Das Projekt hat sich über viele Jahre hinweg entwickelt. Dieses internationale Bildungsangebot für alle Chirurgen-«Lehrlinge» erwuchs aus unserem Lehrauftrag. Aus meiner Sicht stellt dieses Format die Zukunft der medizinischen Ausbildung dar. Bald wird es keine Universität mehr geben, die alle Bereiche auf höchstem Niveau abdecken kann, sodass das E-Learning zu einem Exzellenzstandard werden wird. Das wird eine Qualität und Flexibilität der Zeitpläne gewährleisten, die den Ansprüchen unserer modernen Gesellschaft besser entspricht.
Prof. Dr. med. Pierre-Alain Clavien
Er ist der ehemalige Direktor der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie, Universitätsspital Zürich
1 journals.lww.com/annalsofsurgery/Abstract/2022/11000/Towards_a_Virtual__Global_Academia_of_Surgeons_.2.aspx
2 Horisberger K, Di Natale S, Gutschow CA, Clavien PA. Towards a Virtual “Global Academia of Surgeons”. Ann Surg. 2022 Nov 1;276(5):746-752. doi: 10.1097/SLA.0000000000005642. Epub 21. Juli 2022. PMID: 35861357.