Daten über Krebserkrankungen besser erfassen und nutzen

Organisationen
Ausgabe
2023/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21528
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(17):35-38

Affiliations
a PhD, Head Research Development, Campus Stiftung Lindenhof Bern (SLB), Bern, Schweiz; b PhD, Wissenschaftlicher Koordinator, Personalisierte Gesundheitsinformatik, SIB Schweizerisches Institut für Bioinformatik, Basel, Schweiz; c PhD, MPH, Direktorin, Personalisierte Gesundheitsinformatik, SIB Schweizerisches Institut für Bioinformatik, Basel, Schweiz; d PD Dr. med., Leitender Arzt Onkologie, Universitätsspital Basel und Universität Basel, Basel, Schweiz; e PhD, eMBA, CEO, Campus Stiftung Lindenhof Bern (SLB), Bern, Schweiz; f PD Dr. med. M.Sc, Sektion Krankheitsregister, Bundesamt für Gesundheit, Bern, Schweiz; g Head KSB Health Innovation Hub, Kantonsspital Baden, Baden, Schweiz; Researcher, Institute of Translational Medicine, ETH Zürich, Schweiz; h Head of Clinical Data Management, SAKK Kompetenzzentrum, Bern, Schweiz; i PhD, Project Manager SCORED, SAKK Kompetenzzentrum, Bern, Schweiz; j PhD, Leitung ethische und rechtliche Beratungsstelle, Personalisierte Gesundheitsinformatik, SIB Schweizerisches Institut für Bioinformatik, Basel, Schweiz; k Prof. MD PhD, Médecin chef service d’oncologie de précision et chef du Département d’oncologie des HUG, Genf, Schweiz; l PhD, Geschäftsführer, Oncosuisse, Bern, Schweiz; m MD PhD, Head Personalized Health Basel, Universitätsspital Basel und Universität Basel, Basel, Schweiz; n Prof. Dr. med, Leiter Medizinische Klinik, St. Claraspital, Basel, Schweiz

Publiziert am 26.04.2023

Digitalisierung in Krebszentren Im Rahmen der Oncosuisse Initiative sind Schweizer Krebszentren befragt worden. Das Ziel: die Prozesse des Datenmanagements und den Umgang mit Real-World Daten erfassen. Die Ergebnisse zeigen, dass Datenqualität und Datenübermittlung optimiert werden sollten. So könnten die Daten auch besser für Forschungsprojekte genutzt werden.
Im Gesundheitswesen der Schweiz mangelt es an strukturierten und standardisierten Real-World-Daten (RWD). Routinemässig erhobene gesundheitsbezogene RWD können zusammen mit Daten aus klinischen Studien zur Durchführung von Nutzenanalysen und Generierung der sogenannten Real-World-Evidenz beitragen. RWD werden zunehmend für regulatorische Anforderungen, Forschung sowie für Qualitätssicherungen verwendet. In der Krebsmedizin in der Schweiz gibt es seit 2020 die Meldepflicht für Krebserkrankungen an das zuständige Krebsregister [1]. Die gemeldeten und registrierten Daten zu Krebserkrankungen werden in erster Linie für die Beobachtung der Entwicklung von Tumoren und der Erarbeitung von wirksamen Präventions- und Früherkennungsmassnahmen verwendet. Daneben gibt es mehrere Projekte und Initiativen von nationaler Bedeutung, die darauf abzielen, durch die verbesserte Nutzung von RWD die Versorgungs-, Diagnose- und Behandlungsqualität zu verbessern und weiterzuentwickeln. Dazu gehören das Swiss Personalized Health Network (SPHN) [2)], das Swiss Centralized Oncology Real-World Evidence Data (SCORED)-Projekt der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) und das Oncosuisse Forum und daraus insbesondere die Themenplattform «Daten & Register» [3].
Von einer effizienten Datennutzung könnte vor allem die Krebsmedizin profitieren.
© Dmitry Kalinovsky / Dreamstime
Für alle diese Projekte und Initiativen werden Daten über Krebserkrankungen benötigt und es gibt erhebliche Überschneidungen zwischen ihnen. Die Unzulänglichkeiten von Schweizer RWD in der Onkologie und Hämatologie wurden in der Vergangenheit mehrfach kritisiert und sollen verbessert werden [4]. Im Sinne einer Situationsanalyse hat die Projektgruppe «Knowledge Transfer gewährleisten» im Rahmen einer Oncosuisse Initiative im Sommer 2022 eine elektronische Umfrage durchgeführt, die an die Verantwortlichen von 49 Spitälern versendet wurde, an welchen ein oder mehrere Krebszentren angeschlossen sind. Dazu zählten a) Universitätsspitäler, b) Mitglieder der SAKK, c) Spitäler, die Weiterbildung in medizinischer Onkologie anbieten, und d) Schweizerische Pädiatrische Onkologie Gesellschaft (SPOG)-Mitglieder. Von den 49 angeschriebenen Spitälern haben 37 die Umfrage ausgefüllt (eine Antwort pro Spital stellvertretend für die jeweiligen Subzentren), dies entspricht einer Rücklaufquote von 76%. Unter den Teilnehmenden waren alle fünf Universitätsspitäler, vier SPOG-Mitglieder sowie 28 Spitäler der Kategorien b und c.

Welche Systeme verwendet werden

Das häufigste Krankenhausinformationssystem (KIS) unter den antwortenden Zentren war KISIM (n = 11), gefolgt von CGM Phoenix/G3 (n = 9, siehe Abbildung 1). 13 Zentren gaben an, dass sie in den nächsten Jahren einen Wechsel des KIS planen, davon beabsichtigen sieben einen Wechsel zu KISIM. Die Mehrheit der Zentren verwendete ein Tumordokumentationssystem (TDS, n = 24) und fast alle Zentren mit TDS (n = 22) verfügten über eine Zertifizierung nach DKG oder Q-Label. Das häufigste TDS war ODSEasy (n = 15), gefolgt von ONKOSTAR (n = 5). Keines der Zentren ohne TDS plante die Einführung eines TDS in den nächsten Jahren. Von den semantischen Referenzen für strukturierte Daten wurden nur ICD-10 weitgehend (n = 23) und ICD-O (n = 6) teilweise verwendet. Die übrigen (SNOMED-CT, LOINC, ICCC-3) wurden nur von einzelnen Zentren verwendet. Sechs Zentren verwendeten keine semantischen Referenzen und weitere sieben waren sich diesbezüglich unsicher.
Abbildung 1: Die häufigsten Krankenhausinformationssysteme unter den teilnehmenden Krebszentren (n = 37 Zentren; Mehrfachnennungen möglich). * Unter «Anderes» genannte Freitextnennungen (mindestens zweimal genannt, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Schreibweisen); ** Weitere Freitextnennungen: Axenita, carefolio, DPI, MedVision, PKS plus, Soarian.

Wie die Daten übertragen werden

Die Datenübertragung vom KIS zum TDS erfolgt hauptsächlich manuell, wie in Abbildung 2 dargestellt: In 15 Zentren wurden mehr als 50% der klinischen Daten manuell übertragen, während lediglich in drei Zentren nur 0–10% der klinischen Daten manuell übertragen wurden. Vier Zentren gaben an, die klinischen Daten über eine Schnittstelle direkt vom KIS in das TDS zu übertragen. In 16 Zentren erfolgte die Übertragung von Stammdaten wie Name und Geburtsdatum direkt.
Abbildung 2: Anteil der klinischen Daten, die manuell ins Tumordokumentationssystem übertragen werden (n = 24 Zentren).
Der Datentransfer an das kantonale Krebsregister erfolgte hauptsächlich in unstrukturierter Berichtsform (siehe Abbildung 3). 26 Zentren übermittelten nur Berichte, sieben nur strukturierte Daten und zwei eine Mischform (strukturierte Daten und Berichte). Die häufigste Übermittlungsmethode war E-Mail (n = 24). Zwölf Zentren übermittelten zumindest einen Teil der Daten per Schnittstelle, während vier Zentren die Daten (teilweise) per Fax oder Post übermittelten. Von den neun Zentren, die strukturierte Daten übermittelten, hatten vier die Daten im KIS gespeichert, drei im TDS und die restlichen zwei in anderen Systemen.
Abbildung 3: Datenübermittlung ans kantonale Krebsregister oder Kinderkrebsregister: Inhalt und Übermittlungsart, nach Zentrum (n = 35 Zentren).
Hinsichtlich der für die Übermittlung von Daten an Dritte verwendeten Austauschformate wussten die meisten (n = 22) Teilnehmenden nicht, welches Austauschformat verwendet wurde, und weitere sieben gaben an, dass sie kein Austauschformat verwendeten. Vier gaben an, dass sie Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR) verwenden. Weitere sechs Zentren gaben an, dass sie planen, FHIR in den nächsten ein bis fünf Jahren zu implementieren.

Datenverwendung für Forschung

33 Zentren nutzten zumindest gelegentlich RWD für Forschungsprojekte innerhalb ihrer Einrichtung, elf davon systematisch. Die meisten Zentren (n = 30) tauschten mindestens manchmal RWD im Rahmen von multizentrischen Forschungsprojekten aus, sieben davon häufig. Alle 37 Krebszentren wären grundsätzlich bereit, RWD zu Forschungszwecken im Rahmen landesweiter Initiativen auszutauschen. Die grundsätzliche Bereitschaft, RWD zu Forschungszwecken mit nicht-akademischen Partnern, wie zum Beispiel der Industrie (n = 17) oder den Krankenkassen (n = 11), zu teilen, war bei der Mehrheit (n = 22) vorhanden. Zu den am häufigsten genannten Gründen für die Ablehnung einer Datenweitergabe gehören Vorbehalte in Bezug auf den Datenschutz (n = 14) oder ethische Bedenken (n = 6).
24 Zentren verwendeten einen Generalkonsent (GC), der die Weiterverwendung von RWD für zukünftige Forschungsprojekte ermöglicht. Die Zustimmungsrate der Patientinnen und Patienten zum GC wurde von den Teilnehmenden auf 90% geschätzt. 17 Zentren hatten bereits Forschungsprojekte durchgeführt, bei denen der GC als Patienteneinwilligung diente.
In Bezug auf Fragen der Data Governance gab die Mehrheit der Teilnehmenden an, dass die Erlaubnis zur Weitergabe verschlüsselter Daten an Dritte durch interne Richtlinien (n = 20) und/oder die Rechtsabteilung (n = 17) erteilt wurde. Als primäre Anlaufstelle für interne und/oder externe Datenanfragen wurde am häufigsten die Forschungsabteilung beziehungsweise die Clinical Trials Unit genannt.

Diskussion

Die Umfrage zeigt, dass hinsichtlich Datenqualität (inklusive Aspekte wie semantische Standards, Interoperabilität, Grad der Strukturierung, und so weiter), effizienter Datenübermittlung (inklusive zugrundeliegende Infrastrukturkomponenten, Datenübermittlungsformate, Prozesse, Kanäle und Standards für eine effiziente Übermittlung und so weiter) sowie Weiterverwendung der Daten für Forschungszwecke (inklusive Einwilligungspraxis, Zugang zu den Daten, Bereitschaft sie zu teilen, und so weiter) an den Schweizer Krebszentren grosser Optimierungsbedarf besteht. Mit einer Rücklaufquote von 76% wird die Mehrheit der Krebszentren abgebildet, die Forschung und Weiterbildung betreiben. Kleinere Onkologie-Abteilungen, einzelne Organtumorzentren und auch die Mehrheit der pädiatrischen Zentren sind nicht beziehungsweise unterrepräsentiert.
Aufgrund der nur langsam voranschreitenden digitalen Transformation im Gesundheitswesen sind die zugrundeliegenden IT-Systeme in den Schweizer Spitälern oft veraltet und den heutigen Ansprüchen an ein modernes Datenmanagement nicht gewachsen. Viele Datenprozesse sind weitgehend unbefriedigend; Medienbrüche, eine grosse Ansammlung von unstrukturierten Daten und Doppelspurigkeiten verhindern effiziente Prozesse, interoperablen Datenaustausch und Forschungsaktivitäten. Der manuelle Mehrfachaufwand – sowohl mit Blick auf die Strukturierung der Daten als auch hinsichtlich der Datenübermittlung an die kantonalen Krebsregister – ist gross, fehleranfällig und weit weg vom «Once-only» Prinzip.
Der Grossteil der Krebszentren nutzt die RWD intern für diverse Zwecke (Zertifizierung, Qualitätssicherung, Forschung) und wäre bereit zur Datenteilung mit akademischen Partnern in der Schweiz. Die Bereitschaft, RWD mit nicht-akademischen Partnern (zum Beispiel Krankenkassen, Industrie) zu teilen, wird unterschiedlich beurteilt. Hinsichtlich der Weiterverwendung von Daten für die Forschung macht die Umfrage deutlich, dass es vielerorts einen Bedarf für eine konsolidierte Strategie für einen verantwortungsvollen Datenaustausch braucht, welche die institutionelle Datenverwaltung (Governance) sowie das Interesse der Forschenden an der Einhaltung der rechtlichen und ethischen Vorschriften in der Schweiz berücksichtigt.
Im Rahmen von SPHN wurden in den letzten Jahren schweizweit Infrastrukturen und Prozesse aufgebaut, die eine effiziente und verantwortungsvolle Sekundärnutzung von Daten aus der Gesundheitsversorgung ermöglichen, mit Fokus auf den fünf Universitätsspitälern. Forschungsaktive Disziplinen, wie die Onkologie und Hämatologie, insbesondere auch an nicht-universitären Zentren, könnten von den geleisteten Arbeiten besonders profitieren. Allerdings ist deren Interaktionsfähigkeit mit Forschungspartnern limitiert, da sie an die digitalen Entwicklungen [5] ihrer Spitaler gebunden sind.
Eine flächendeckende und effiziente Datennutzung für die Forschung bedarf eines hohen Grads an Strukturierung der Daten (idealerweise bereits bei deren Erhebung), Entwicklung und Einsatz von semantischen Standards zur Förderung von Interoperabilität und eines entsprechenden Rahmens für die Weiterverwendung der Daten zu Forschungszwecken. Dies alles selbstverständlich disziplinübergreifend. Um eine breite Datengrundlage zu ermöglichen, bräuchte es – insbesondere auch für nicht-universitäre Zentren – entsprechende Förderprogramme sowie Anreizsysteme für Investitionen in Infrastrukturen für gute Daten [6,7].
Gerade die Krebsmedizin könnte von einer effizienten Datennutzung profitieren und die Möglichkeit erhalten, aus vielen Einzelerfahrungen gemeinsam zu lernen. In ihren Nischenbereichen könnten so Erkenntnisse für neue Therapien gewonnen und Studienergebnisse in der Praxis validiert werden.

Danksagungen

Wir danken den teilnehmenden Spitälern für die Zeit und den Aufwand, den sie für das Ausfüllen der Umfrage aufgewendet haben. Ferner danken wir Nathalie Buser für die Unterstützung bei der Datenerhebung und Oncosuisse für die Verteilung der Umfrage.
3 https://www.oncosuisse.ch/gesellschaft/ (zugegriffen am 21.12.22)
6 European Commission, Directorate-General for Research and Innovation, Study on the use of real-world data (RWD) for research, clinical care, regulatory decision-making, health technology assessment, and policy-making: final report and recommendations, Publications Office of the European Union, 2021, https://data.europa.eu/doi/10.2777/340449