Vorbild sein trotz Profitmedizin

Praxistipp
Ausgabe
2023/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21531
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(12):80-81

Publiziert am 22.03.2023

Karriere Viele engagierte Ärztinnen und Ärzte spüren ein Unbehagen aufgrund der Kommerzialisierung der Medizin. Sie arbeiten unter Zeitdruck und strapazieren wegen der Bedingungen ihr ethisches Empfinden. Wie sollen sie unter diesen Umständen gute Vorbilder für den Nachwuchs sein?
Soziales Engagement, Ansehen, Verdienst, wissenschaftliches Interesse, Gerechtigkeitssinn, Krisensicherheit: Das sind einige der vielen Gründe, aus denen man den Arztberuf ergreift. Doch warum sind Ärztinnen und Ärzte plötzlich «Mangelware»?
Schweizer Spitäler werden von ausländischen Investmentfirmen gekauft, Arztpraxen von Lebensmittelgrosskonzernen oder Logistikunternehmen, Medizin und damit der kranke Mensch, aber auch die Akteure, also Pflegende und Ärzteschaft, werden als Ware betrachtet, die man zur Gewinnoptimierung ausquetschen kann. Die, welche alles bezahlen, die Prämienzahler, Steuerzahlerinnen und Patienten wehren sich nicht. Bei den Akteuren, also allen im Gesundheitswesen Tätigen, ohne die gar nichts funktionieren könnte, macht sich ein Unbehagen breit, welches darin gipfelt, dass Fachkräfte den Beruf verlassen.
Ich habe mir selbst und einigen Kolleginnen und Kollegen die Frage gestellt, warum sie Medizin studiert haben und was sie dazu geführt hat, ihr spezifisches Fachgebiet zu wählen. Bei einigen war die Medizin nicht die erste Wahl. Da gab es Umwege über Forstwirtschaft, Jurisprudenz, den Pilotenberuf oder die Nationalökonomie. Offenbar befriedigten diese Fächer nicht und so wurde Medizin gewählt. Ein Fach, das interessant erschien, intellektuelle und handwerkliche Fähigkeiten vereinte und früher mit einem hohen Ansehen und hoher Autonomie einherging. Einige Kolleginnen und Kollegen hatten Ärztinnen und Ärzte in der Familie und der Weg war schon früh klar aufgezeigt.
© Luca Bartulović
Wie aber wählt man sein Spezialgebiet? Ein Kollege, später langjähriger und beliebter Chefarzt, war vom Verhalten des Chefarztes seines Traumfachs so abgestossen, dass es ihm das ganze Fach verleidete. Hingegen ein Oberarzt eines anderen Faches, der ihm im Notfalldienst ein EKG ausführlich, bildlich anschaulich und mit Bezug zur Klinik erklärte, führte zur Kehrtwende und er wurde mit Überzeugung Kardiologe.
Auch andere Kollegen berichten über negative Vorbilder. Leider vor allem in der Frauenheilkunde, die sie von ihrem Traumfach Abstand nehmen liessen. Eine Kollegin, die Chefärztin einer grossen universitären Klinik wurde, gibt als Vorbild ihre Lehrmeisterin an, die ebenfalls Professorin mit Familie und höchst erfolgreich wissenschaftlich tätig war. Eine weitere, passionierte Kollegin musizierte zusammen mit einem Dirigenten, der Gynäkologe war, und kam so, von ihm verordnet, zu ihrem Fach.
Es gibt auch den originellen Weg einer Allgemeinpraktikerin, welche ihren geliebten Hund von Veterinär zu Veterinär brachte und keine Hilfe bekam. Sie suchte Rat bei einem TCM-Veterinär, der den Hund heilen konnte. Durch dieses Erlebnis geprägt beschloss sie, ebenfalls TCM-Ärztin zu werden und hat dies ihr Leben lang praktiziert. Allen Aussagen gemeinsam ist, dass ein Vorbild – sei es in der Familie, sei es während der Ausbildung – prägend und wegweisend war für die engagierte Hingabe zu einem Fach. Aber, um zum Anfang der Geschichte zurückzukommen: Alle fühlen ein Unbehagen mit der Kommerzialisierung der Medizin, die Arbeit unter Zeitdruck erfordert und das eigene ethische Empfinden arg strapaziert. Wie soll man unter diesen Voraussetzungen ein gutes Vorbild sein? Wenn wir aber verhindern wollen, dass weiterhin gut ausgebildete Kolleginnen frühzeitig den Beruf verlassen, so sollten alle, angefangen von den Assistenzärztinnen und -ärzten bis zur Chefetage wieder Vorbilder sein, mutig in Bezug auf Entscheidungen, vorbildlich in wissenschaftlichen und menschlichen Belangen.
Wenn ein Chefarzt einer grossen und renommierten Klinik bei seiner Emeritierung sagt, dass leider in seinem Team niemand als Nachfolger oder Nachfolgerin infrage käme, so war er in dieser wichtigen Funktion nicht Vorbild, sondern hat schlicht und einfach versagt.
Dr. med. Brida von Castelberg
Sie war von 1993 bis 2012 Chefärztin der Frauenklinik des Stadtspitals Zürich. An dieser Stelle schreibt sie regelmässig über Karrierefragen.