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Hintergrund
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21537
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):16-19

Publiziert am 22.02.2023

Medizinprodukte Ob Pflaster, Nasenzangen oder Spezialstents: Der Markt für Medizinprodukte ist ausgetrocknet. Manche Utensilien sind schlicht nicht verfügbar. Das zwingt Institutionen und Unternehmen im Gesundheitswesen zu ungewöhnlichen Massnahmen: Die einen horten, andere passen ihre Behandlungen an die neuen Gegebenheiten an.
Eine solche Situation habe ich noch nie erlebt», sagt Daniel Borer, Leitender Arzt der Klinik für Anästhesiologie am Kantonsspital Winterthur (KSW). Es mangle an allen möglichen Medizinprodukten. Bei Verbrauchsartikeln wie sterilen Abdeckungen könne man sich gut mit Ersatzprodukten behelfen, problematisch sei es, wenn Spezialmaterial ausbleibe. Als Beispiel nennt der Anästhesist einen Jet-Tubus, mit der sich die Atembewegungen für bestimmte Operationstechniken stark verringern lassen. «Minimalinvasive Verfahren wie die Verödung eines Lebertumors, für das wir das Know-how aufgebaut haben, können wir nur mit dem entsprechenden Material anbieten.» Fehlt der Tubus, muss ein Tumor mittels eines komplexen Baucheingriffs entfernt werden, «eine Technik, die den Patienten in diesem Fall unnötig belastet». Weil nicht absehbar ist, ob man den Spezialtubus auch künftig bekommt, habe das KSW sämtliche noch verfügbare Bestände erworben. Und wenn dieser Vorrat aufgebraucht ist? Daniel Borer dreht die Handflächen nach oben: «Dann hat die Patientin noch die Option, sich zum Beispiel in Paris nach dieser Methode operieren zu lassen.»
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Einkäufer im Medizinalbereich haben es zurzeit schwer, an Medizinprodukte zu kommen.
© Goghy73 / Dreamstime

Zertifizieren in Zeitlupe

Die Engpässe bei den Medizinprodukten sind eine Folge der neuen europäischen Medical Device Regulation (MDR). Sie gilt seit 26. Mai 2021 und hat «ganz Europa alarmiert», wie Anita Holler, Kommunikationschefin von Swiss Medtech, die Lage der Medizintechnik-Industrie zusammenfasst. Die MDR erhöht die Qualitätsstandards und vergibt einem bestehenden oder neuen Produkt das CE-Kennzeichen für «Conformité Européenne» nur, wenn es durch sogenannte Notified Bodies oder Benannte Stellen (re)zertifiziert ist. Die Umsetzung der neuen europäischen Regulierung verläuft jedoch nur schleppend, da es viel zu wenige dieser Benannten Stellen gibt: Aktuell 34 statt wie vor Einführung der MDR deren 80. Zudem dauert eine Zertifizierung nun zwischen 13 und 18 Monaten, doppelt so lange wie bis anhin.
Das Resultat: Im Juli 2022 waren 85 Prozent der über 500 ​000 altrechtlichen Produkte noch nicht rezertifiziert [1]. Es überrascht nicht, dass die Hersteller schon heute 15 Prozent der Artikel als nicht mehr wirtschaftlich betrachten und aus dem Portfolio gestrichen haben [2]. Darunter sind bewährte Produkte, die schon lange auf dem Markt sind, wie kleine Stents zur Dehnung der Speiseröhre bei Kindern [3].
Am 9. Dezember hat die EU-Kommission reagiert. Sie wird die MDR punktuell so ändern, dass die Überführung in MDR-Produkte dennoch gelingen könnte – unter anderem soll die bisherige Übergangsfrist vom 26. Mai 2024 verlängert werden [4]. Dies ist kurz vor Redaktionsschluss geschehen [5]. «Damit wird die drohende Versorgungsproblematik etwas entschärft», sagt Anita Holler, betont jedoch: «Das MDR-System hat fundamentale Schwächen und muss grundlegend überarbeitet werden.»

Schweizer Importhürden

Die Schweizer Europapolitik spitzt die Lage hierzulande weiter zu: Gleichzeitig mit der Einführung der MDR hat der Bundesrat Ende Mai 2021 die Verhandlungen zum institutionellen Abkommen mit der EU abgebrochen. Seither wird die Schweiz von der EU, woher die Hälfte aller hier benötigten Medizinprodukte stammen, als Drittstaat behandelt. Deshalb müssen Schweizer Medizinprodukte-Hersteller nun eine Vertretung in der EU haben, welche als Kontaktstelle zu den Behörden fungiert und auf den Produkten aufgeführt sein muss. Diese Bedingung haben fast alle Schweizer Medtech-Exporteure bei Beginn der MDR erfüllt. Umgekehrt fordert nun der Bund, dass auch europäische Hersteller in der Schweiz eine Vertretung stellen – viel Aufwand, um einen kleinen Markt zu bedienen. Über 1000 europäische Unternehmen sind nicht bereit, ihn zu leisten. So fehlen laut Swiss Medtech schon heute rund 60 ​000 der bisher in die Schweiz importierten Medizinprodukte.
Deutlich mehr Aufwand haben unter diesen Umständen auch Importeure wie die Firma Anklin, die endoskopische Systeme vertreibt. Anklin sucht intensiv nach Ersatz für gekündigte Produkte und hat ihre personellen Ressourcen ausgebaut: Das Qualitätsmanagement wurde um eine Vollzeitstelle erweitert und viele Mitarbeitende hätten zusätzliche Aufgaben erhalten, namentlich in der Logistik und im Business Development, berichtet CEO Frank Schäfer. Weitere Handlungsmöglichkeiten hat der Importeur beim Lager. «Wir versuchen, betroffene Artikel zum richtigen Zeitpunkt in grösserer Zahl zu beschaffen. So reduzieren wir die Wartezeit für unsere Kunden.» Ausschlaggebend sei die Kommunikation. «Es ist für uns zentral, den Herstellern als Sprachrohr des Schweizer Gesundheitswesens die Situation und die Bedürfnisse aufzuzeigen», sagt Frank Schäfer. So könne man auch die Kundschaft laufend informieren. Da die Schwierigkeiten bekannt seien, stosse Anklin trotz Lieferverzögerungen auf grosses Verständnis.

Hamsterkäufe und Mehrkosten

Im Kantonsspital Winterthur fehlen aktuell mangels Rezertifizierung bereits über 70 Medizinprodukte. «Diese Ausfälle können wir zurzeit mit Ersatzartikeln decken», sagt Patrick Müller, Leiter Supply Chain Management. Sollte sich diese Entwicklung im ähnlichen Rahmen fortsetzen, werden am KSW nächstes Jahr aber bereits rund 200 und 2024 über 1200 Medizinprodukte fehlen. «Dann hat das Gesundheitswesen ein Riesenproblem», warnt Patrick Müller. Die Spitäler stehen im steten Austausch und helfen einander wenn nötig mit Material aus, «es kämpfen alle mit denselben Unwägbarkeiten.» Der Markt ist in Bewegung, die Unsicherheit gross, Planung schwierig: Kündigt ein Lieferant Wartezeiten oder das Auslaufen eines Artikels an, kaufen die Institutionen rasch Lager an. Wer dabei das Nachsehen hat, muss sich schleunigst um möglichst gleichwertigen Ersatz kümmern. Dieser kann dann aufgrund der hohen Nachfrage bis zu 30 Prozent teurer sein als zuvor. «Diese Preisaufschläge geben wir bei ambulanten Leistungen direkt den Krankenkassen weiter», so Patrick Müller. Bei den Fallpauschalen werde der Effekt mit einiger Verzögerung einsetzen.
Die angespannte Situation stellt die Einkaufabteilung am KSW vor grosse Herausforderungen, es fehlen Daten und Übersicht. Es ist eine Herkulesaufgabe, bei 24 ​000 im System registrierten Produkten zu wissen, wann deren Zertifikate genau ablaufen oder wieder gültig sind. Umso mehr, weil die elektronische Infrastruktur die neuen Bedürfnisse noch gar nicht alle erfüllen kann. So war es im KSW unumgänglich, weitere Mitarbeitende für die wachsende Administration einzustellen. Doch die Suche nach Ersatzprodukten beschäftigt bei komplexeren Artikeln auch das medizinische Personal. «Gerade bei Nischenprodukten für spezialisierte Verfahren müssen wir selber recherchieren», sagt Anästhesist Daniel Borer. «Das bindet Ressourcen.»

Patientenversorgung unter Druck

Doch selbst wenn Ersatzprodukte vorhanden sind – nicht alle sind sofort einsetzbar, teilweise braucht es dazu Schulungen oder zumindest eine gewisse Umgewöhnungszeit. «Unsere Fachleute sind grundsätzlich sehr flexibel und können sich rasch auf veränderte Bedingungen einstellen», hält Daniel Borer fest. Sicher fühle sich in die Assistenzzeit zurückversetzt, wer als Anästhesist wegen des minim anderen Schliffs einer neuen Nadel plötzlich das «Feeling» beim Stechen vermisse, aber diese Phase sei rasch überwunden. Natürlich klage man bei solchen Umstellungen auf hohem Niveau. «Aber nach den Pandemiejahren könnten wir auf zusätzlichen Stress durchaus verzichten», meint Daniel Borer.
Dass die neue europäische Regulierung die Patientensicherheit steigern will, anerkennt Patrick Müller. «Aber wenn deswegen Produkte nicht mehr verfügbar sind oder sogar verschwinden, ist man zu weit gegangen.» Es könne nicht sein, dass bewährte und klinisch einwandfreie Produkte plötzlich nicht mehr wirtschaftlich seien. Ausserdem ist es für ihn «ein No-Go, dass Hersteller nicht liefern können, weil sie keinen Zertifizierungstermin bekommen.» Für Patrick Müller ist klar: Der Schweizer Markt darf sich nicht mehr nur auf CE-zertifizierte Produkte beschränken, sondern muss sich auch für Artikel öffnen, die von der US Food and Drug Administration (FDA) zugelassen sind.

Rettungsanker FDA

Eine FDA-Zertifizierung stärkt laut Swiss Medtech die Wettbewerbsfähigkeit eines Produktes rasch und nachhaltig. «Dem funktionierenden FDA-System mit einer zentralen staatlichen Zulassungsstelle steht das MDR-System mit Benannten Stellen in verschiedenen Ländern Europas gegenüber, das noch nicht funktionstauglich ist», hält Anita Holler fest. «Ausserdem ist die FDA besser auf Digitalisierung und Künstliche Intelligenz eingestellt – beides boomende Bereiche der Medtech-Industrie.» Die MDR hinke da weit hinterher. Entsprechend rät man heute Unternehmen, insbesondere Start-ups, ihre Innovationen zuerst von der FDA prüfen zu lassen und erst dann eine CE-Zulassung anzustreben. Gemäss einer Umfrage tun dies schon 89% der Medtech-Unternehmen bei digitalen Entwicklungen [6]. Was in der Schweiz die absurde Folge hat, dass nationale Innovationen nur im Ausland zur Anwendung kommen.
Ungeachtet dieser Realitäten hatten sich Behörden und Bundesrat lange gegen die Öffnung des Schweizer Medizinprodukte-Marktes gesperrt. Jetzt hat sich das Blatt gewendet: Zu Beginn der Wintersession hat das Parlament die entsprechende Motion von Ständerat Damian Müller zur Planungssicherheit von Medizinprodukten [7] angenommen, welche von vielen Gesundheitsakteuren unterstützt worden war. Nun hofft Swiss Medtech «auf eine pragmatische und zügige Umsetzung dieses parlamentarischen Auftrages», sagt Anita Holler. Auf diese Weise lasse sich die drohende Versorgungskrise entschärfen, die hiesige Innovationskraft stärken und die Standortattraktivität der Schweizer Medtech-Industrie wieder erhöhen. Oder wie Patrick Müller den dringenden Handlungsbedarf aus Spitalperspektive formuliert: «Gesetzgebung braucht Zeit – und Zeit ist genau das, was wir nicht haben.»
1 MedTech Europe Survey Report – Analysing the availability of Medical Devices in 2022 in connection to the Medical Device Regulation (MDR) implementation vom 14.07.2022: www.medtecheurope.org/resource-library/medtech-europe-survey-report-analysing-the-availability-of-medical-devices-in-2022-in-connection-to-the-medical-device-regulation-mdr-implementation/
2 Schweizer Medizintechnikindustrie-Branchenstudie 2022, September 2022: swiss-medtech.ch/sites/default/files/2022-09/22_2769_SMTI_2022_Deutsch.pdf
3 «Medizinprodukte – Wie die neue EU-Verordnung die Patientenversorgung verschlechtert», Plusminus SWR vom 07.08.2021: www.youtube.com/watch?v=AlQZeDdHbuo
4 Swiss Medtech Kommentar «Zu den punktuellen MDR/IVDR-Änderungsvorschlägen der EU-Kommission vom 9. Dezember 2022», 14. Dezember 2022: www.swiss-medtech.ch/news/swiss-medtech-kommentar
5 www.swiss-medtech.ch/news/mdr-portal
6 Johnson C, McCaney F, Ulmer K et. al.: «Interstates and Autobahns. Global Medtech Innovation and Regulation in the Digital Age», Boston Consulting Group, März 2022: web-assets.bcg.com/8c/f0/06744e8848ea9654bbd0765bf285/bcg-interstates-and-autobahns-mar-2022.pdf
7 Motion 20.3211 Für mehr Handlungsspielraum bei der Beschaffung von Medizinprodukten zur Versorgung der Schweizer Bevölkerung: www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203211