Auf den Punkt

Frau und Mann sind anders krank

News
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21543
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(07):8-9

Publiziert am 15.02.2023

Präzisionsmedizin Der schweizweit erste Lehrstuhl für Gendermedizin entsteht an der Universität Zürich. Das Forschungsfeld ist auf geschlechtsspezifische Medizin ausgerichtet und soll unter anderem Ärztinnen und Ärzten den Praxisalltag erleichtern – und auch Erkrankte können profitieren.
Susanne Wegener, die Universität Zürich plant den schweizweit ersten Lehrstuhl für Gendermedizin. Die Professur soll spätestens Anfang 2024 besetzt werden. Sie forschen selbst auch auf dem Gebiet. Erklären Sie uns, was ist der Auftrag der Gendermedizin?
Heute strebt man bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen eine personalisierte Medizin oder auch Präzisionsmedizin an. Medizinische Behandlungen sollen zielgerichteter und damit besser werden. Ein erster Schritt in Richtung Präzisionsmedizin besteht darin, in der medizinischen Forschung konkret nach geschlechtsspezifischen Unterschieden zu suchen. Diese müssen dann in die Prävention von Erkrankungen und deren Behandlung einbezogen werden.
Können Sie das Stichwort «Gendermedizin» in einem Satz umreissen?
Gendermedizin steht für geschlechtsspezifische Medizin, also für medizinische Behandlung unter Berücksichtigung des biologischen und des sozialen Geschlechtes.
Bei welchen Erkrankungen fallen Unterschiede von Männern und Frauen besonders auf?
Es gibt Erkrankungen, die überwiegend bei Männern oder bei Frauen auftreten, zum Beispiel die Prostata-Hyperplasie oder das Mamma-Karzinom. Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen aber auch bei anderen Erkrankungen wie Herzinfarkt, rheumatologischen Krankheiten oder Kopfschmerzen.
Können Sie Beispiele nennen, wo sich Unterschiede sogar in der medizinischen Betreuung bemerkbar machen?
Patientinnen haben häufig andere Präferenzen, was die Diagnostik und Therapie angeht, als Patienten mit derselben Erkrankung. Die Wirksamkeit von Medikamenten und auch deren Nebenwirkungen können geschlechtsspezifisch unterschiedlich sein. Bei Frauen muss beispielsweise auf Interaktionen mit hormonellen Kontrazeptiva geachtet werden, was die Auswahl an Medikamenten einschränken kann.
Wie können Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in der Praxis effektiv umgesetzt werden?
In einem ersten Schritt sollten in klinischen Studien Frauen und Männer möglichst zu gleichen Teilen eingeschlossen werden. So lassen sich Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung auch in der Klinik testen. Des Weiteren ist wichtig, dass diese Erkenntnisse in der Entwicklung von Arzneimitteln und bei deren Anwendung berücksichtigt werden. Wir müssen das Wissen um die Unterschiede bei den Geschlechtern vermehrt zugänglich machen. Darauf muss schon während der Ausbildung des medizinischen und wissenschaftlichen Nachwuchses geachtet werden, indem diese Erkenntnisse im Curriculum verankert werden. Aber auch die, die in der Praxis tätig sind, müssen für die Besonderheiten der Geschlechter sensibilisiert werden. Bereits jetzt bieten die Universitäten Zürich und Bern einen CAS-Studiengang «Sex- and Gender-Specific Medicine» an.
Gendermedizin steht für die Berücksichtigung des Geschlechts bei der medizinischen Behandlung.
© Snezhana Kudryavtseva / Dreamstime
Was müssen Medizinerinnen und Mediziner für ihren Praxisalltag über Gendermedizin wissen?
Viele wissen, dass es individuelle Unterschiede in den Bedürfnissen zu Aufklärung, in der Diagnostik und bei der Behandlung gibt, die auch durch das Geschlecht bestimmt sind. Hier heisst es, diese Bedürfnisse ansprechen und auf dem Laufenden zu bleiben, was neue Therapieempfehlungen angeht. Wo immer möglich, sollten wir Studien im Bereich der Gendermedizin aktiv unterstützen.
Wie können Patientinnen und Patienten von dem Wissen profitieren?
Das beginnt bereits mit der Diagnose. Je zuverlässiger man die Befunde der Erkrankten einordnen kann, desto zielführender kann man therapieren. Wir alle wollen eine Behandlung, die auf uns zugeschnitten ist, die «passt». Das wiederum steigert die Wirksamkeit und die Effizienz der Behandlung. Von mehr Wissen würden alle profitieren.
Hat sich durch die Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden in der Medizin für Patienten und Patientinnen bereits heute etwas verändert?
Für die Diagnostik gibt es hier ein gutes Beispiel: Mittlerweile ist vielen Kolleginnen und Kollegen vertraut, dass Symptome eines Herzinfarktes bei Frauen nicht immer so ablaufen, wie es in Lehrbüchern beschrieben ist: mit heftigen Schmerzen in der Brust, die in den linken Arm ausstrahlen. Frauen haben häufiger unspezifische Symptome wie Unwohlsein, die durchaus auf einen Herzinfarkt hinweisen können. Hier haben sich Abklärungsalgorithmen in den letzten Jahren verbessert mit dem Ziel, Herzinfarkte bei Frauen nicht zu verpassen.
Prof. Dr. med. Susanne Wegener
Leitende Ärztin an der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich. Sie forscht über geschlechtsspezifische Unterschiede bei verschiedenen Erkrankungen.