Doktor to go

Hintergrund
Ausgabe
2023/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21550
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(09):18-21

Publiziert am 01.03.2023

Digitalisierung Telemedizin ist ein Hype – aber welche Vorteile bringt sie wirklich? Ein Dermatologe, ein Kardiologe, ein Psychologe und eine Hausärztin beleuchten das Phänomen und berichten über ihre Erfahrungen, sowie Chancen und Grenzen der virtuellen Sprechstunden.
Die Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten unterscheiden sich, die Diagnosen, die sie stellen ebenso. Auf den ersten Blick haben sie wenige Gemeinsamkeiten: Alexander Navarini ist Dermatologe, Laurent Roten Kardiologe, Thomas Berger Psychologe und Corinne Chmiel Hausärztin. Eines eint sie jedoch. Sie alle empfangen Patientinnen und Patienten auch im virtuellen Sprechzimmer. Vier Fachkräfte, vier Schatzkisten voller Erfahrungen rund um die Telemedizin – die sie hier teilen.
Die erste öffnet Alexander Navarini, Chefarzt für Dermatologie am Universitätsspital Basel. Virtuelle Konsultationen seien in seinem Fachgebiet besonders gefragt, bestätigt der Arzt. In der Dermatologie habe sich die Telemedizin aus einem Patientenbedürfnis heraus entwickelt, sagt Alexander Navarini. «Sobald Smartphones mit Kamera aufkamen, begannen die Leute, uns Fotos zu schicken mit der Bitte, doch schnell die fotografierte Hautstelle anzuschauen», erinnert er sich. «Ich hatte dabei immer ein ungutes Gefühl, auch wegen des fehlenden Datenschutzes.»
Da die Dermatologie ein visuelles Fach ist und Diagnosen in gewissen Fällen tatsächlich aufgrund von Bildern möglich sind, sah Navarini in seinem Fachbereich von Anfang an Potenzial für telemedizinische Anwendungen – also für medizinische Betreuung oder Nachsorge, die mittels technischer Hilfsmittel aus der Ferne erfolgt.
Der Trend geht zu mehr Flexibilität im Gesundheitswesen, Telemedizin machts möglich.
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Als 2018 ein Dermatologe und ein IT-Experte die Online-Plattform derma2go gründeten, habe er die Entwicklung mit Interesse verfolgt. Er erwarb Minderheitsanteile an der Plattform und arbeitet seit 2019 mit der Technologie. Diese ermöglicht eine direkte, sichere Kommunikation von Patientinnen und Patienten mit Dermatologinnen und Dermatologen. Sie können ihre Bilder hochladen, innert 24 Stunden erhalten sie eine Einschätzung von einer Fachärztin oder einem Facharzt. Beide Seiten werden per SMS informiert, wenn eine Anfrage, eine Rückfrage oder eine Einschätzung auf der Plattform abrufbar sind. Am Universitätsspital Basel hat Navarini zudem zwei eigene telemedizinische Angebote aufgebaut, die ebenfalls mit der Software von derma2go arbeiten: www.hautproblem.ch für Patientinnen und Patienten, www.dermakonsil.ch für Hausärztinnen und Hausärzte, die auf diesem Weg eine dermatologische Einschätzung einholen können, bevor sie jemanden behandeln.
Laut Navarini gehen beim Universitätsspital Basel inzwischen etwa zwei bis drei teledermatologische Anfragen pro Tag ein. «Mehr als die Hälfte der Fälle können wir aus der Ferne behandeln», sagt er. Beispielsweise Pilzinfekte liessen sich oft gut auf einem Bild erkennen, ebenso Rosazea, Schuppenflechte, Akne oder Borreliose. Sofern die Diagnose aufgrund des Bildes klar genug sei, könne man ein Rezept ausstellen und eine Behandlung beginnen.

Chronische Krankheiten eng begleiten

Bei schweren Fällen von Schuppenflechte, bei denen er Betroffene über Jahre begleite, sei nach wie vor mindestens eine persönliche Konsultation zu Beginn der Behandlung nötig. «Aber wenn die Medikamente einmal gut eingestellt sind, kann man das Follow-up teledermatologisch machen,» sagt Navarini. In einer US-amerikanischen Studie [1] zur Behandlung von Schuppenflechte schnitt die Teledermatologie punkto Therapieerfolg und Patientenzufriedenheit gleich gut ab wie eine Behandlung mit persönlichen Konsultationen. «Es ist nach wie vor sinnvoll, solche Patientinnen und Patienten einmal im Jahr persönlich zu sehen», sagt der Dermatologe.

Telemedizin mit Herz

Die Telemedizin könne eine engmaschige Betreuung von Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten erleichtern, sagt auch Kardiologe Laurent Roten. In den vergangenen 15 Jahren hat er am Inselspital Bern die telemedizinische Begleitung von Patientinnen und Patienten aufgebaut, bei denen Herzschrittmacher, Kardioverter-Defibrillatoren (ICDs) oder Ereignisrekorder zur Erfassung von Herzrhythmusstörungen implantiert wurden. «Die Innovation kam von der Industrie», sagt Roten. Mit Hilfe eines Zusatzgeräts – seit ein paar Jahren werden auch Smartphones eingesetzt – werden die Daten der implantierten Geräte auf einen Server hochgeladen. Eine Software bereitet diese Daten auf und generiert je nach gewählten Einstellungen Alarmmeldungen. Das Telemedizin-Team triagiert diese Meldungen.
Relevante Alarmmeldungen, zum Beispiel wegen Rhythmusstörungen oder technischer Störungen, bespricht das Telemedizin-Team mit der Dienstärztin oder dem Dienstarzt. Dann nimmt es direkt Kontakt zu den Patientinnen und Patienten oder dem Hausarzt auf. «Mit der Telemedizin können wir Geräte technisch überwachen und häufig eingreifen, bevor eine Fehlfunktion gefährliche Folgen hat. Und wir sehen auch frühzeitig, wenn sich bei jemandem Rhythmusstörungen häufen», sagt Roten.
Umgekehrt können sich auch Patientinnen und Patienten mit Fragen direkt ans Telemedizin-Team wenden, ohne dass sie vorher einen Termin beim Kardiologen vereinbaren müssen. «Das ist ein niederschwelliges Angebot, das viele unserer Patientinnen und Patienten sehr schätzen», sagt Roten. Inzwischen werden am Inselspital auf der Rhythmologie rund 1800 Patientinnen und Patienten telemedizinisch begleitet.
Roten betont aber auch die Grenzen: «Die telemedizinische Begleitung ist kein Notfallsystem. Wir schauen die Daten nur zu Bürozeiten an, und weil die meisten Geräte die Daten nachts übertragen, kann es bis zu 24 Stunden dauern, bis wir sie einsehen, am Wochenende sogar bis 72 Stunden. Bei Thoraxschmerzen oder Atemnot müssen Patientinnen und Patienten nach wie vor die Hausarztpraxis oder den Notfall kontaktieren.»
Man dürfe auch den Aufwand für ein gutes Angebot nicht unterschätzen, sagt Roten: «Die Telemedizin erlebt gerade einen grossen Hype, alle reden von den Möglichkeiten, die sie bietet. Um sicherzustellen, dass es auch wirklich funktioniert und Patientinnen und Patienten einen Mehrwert davon haben, ist aber sehr viel Arbeit nötig.» Technische Probleme bei der Übertragung seien nicht selten, und als das G2-Mobilfunknetz abgeschaltet wurde, seien davon Geräte von mehreren Hundert Patientinnen und Patienten betroffen gewesen, erzählt Roten. «Bis wieder alles funktionierte, war der Aufwand für das gesamte Team ziemlich gross.»

Unkomplizierter Erstkontakt

Zurück zu Alexander Navarini und der Telemedizin in der Dermatologie: Hier stosse die Technik an Grenzen, wenn zur Diagnose mikroskopische Bilder, Gewebe- oder Blutproben notwendig sind. Beispielsweise Muttermale müsse man zur sicheren Beurteilung vor Ort zeigen, ebenso wie Knoten, die wachsen oder bluten, sagt Navarini. Auch für Lichttherapien oder längere systemische Therapien wie etwa die medikamentöse Behandlung von Akne müssen Patientinnen und Patienten weiterhin eine Hautarztpraxis aufsuchen. Aber auch in Fällen, in denen letztlich ein Arztbesuch nötig ist, könne die Telemedizin hilfreich sein: «Über die Teledermatologie können wir sehr häufig eine Ersteinschätzung des Krankheitsbildes anbieten und beispielsweise sagen: Das sieht nicht nach einem bösartigen Krebs aus und ist kein Notfall. Das ist für Patientinnen und Patienten sehr wertvoll. Und auch uns hilft es beim Priorisieren.»
Ausserdem ermögliche die Teledermatologie einen unkomplizierten Erstkontakt: «Für viele ist ein Arztbesuch ein grosser Schritt und mit viel Angst und Nervosität verbunden. Die Hemmschwelle, erst einmal ein Foto für eine erste Einschätzung zu schicken, liegt viel tiefer.» Das gilt nicht nur in der Dermatologie.

Psychotherapie via Videokonferenz

«Der grosse Vorteil der Telemedizin ist, dass wir damit auch in der Psychotherapie viel mehr Betroffene erreichen können», sagt Psychologieprofessor Thomas Berger, der an der Universität Bern die Abteilung klinische Psychologie und Psychotherapie leitet und selbst viel zum Thema geforscht hat. Seine Erkenntnisse sind seiner Aussage nach auch für Psychiater interessant, die ebenfalls telemedizinisch arbeiten können. Psychotherapie via Videokonferenz sei laut diversen Studien [2] gleich wirksam wie Face-to-Face-Therapie, sagt Berger. Stark am Kommen seien derzeit Apps und digitale Selbsthilfeinterventionen, die entweder als Ergänzung zur Psychotherapie oder aber als alleinstehende Interventionen gedacht sind – beispielsweise zur Prävention oder zur Behandlung von häufigen psychischen Leiden wie Depression, Angst- und Schlafstörungen.
«Leute, die unter einer psychischen Störung leiden, warten oftmals jahrelang, bevor sie sich Hilfe suchen», sagt Berger. Online-Selbsthilfe und digitale Interventionen könnten die Zugangsschwelle herabsetzen.
«In akuten Krisen oder wenn jemand suizidal ist, ist es sicher nicht das Richtige, die Person auf Distanz zu therapieren», betont Berger. Auch eine Diagnosestellung sollte immer Face-to-Face erfolgen. Anschliessend lohne es sich aber zu klären: Welche digitalen Anwendungen gibt es für den vorliegenden Fall, die sich bewährt haben?
Vielversprechend sind laut Berger vor allem sogenannte Blended-Ansätze, bei denen digitale Angebote mit einer klassischen Psychotherapie kombiniert werden. In mehreren Studien [3] zu Depression habe eine mit einer App ergänzte Therapie sogar besser abgeschnitten als eine konventionelle Therapie.
Digitale Selbsthilfetools und Apps gegen Depression, die ohne Therapeuten genutzt werden, haben laut Berger allerdings nur kleine Effekte. «Das Problem ist, dass Leute, die an einer Depression leiden, die Apps kaum nutzen.»
Ein weiteres Problem sei die Qualitätssicherung. «Es gibt wahnsinnig viele solcher Apps und Selbsthilfe-Tools, aber viele davon sind schlecht oder schlichtweg nicht erforscht. Und diejenigen Tools, deren Wirkung durch Studien nachgewiesen ist, sind oftmals nicht frei zugänglich.»
Ein Spin-off der Universität Bern möchte das ändern: Mit YLAH – Berndeutsch für «sich auf die Therapie einlassen» – wird ein online-Tool entwickelt, das Psychiaterinnen und Psychotherapeuten dabei hilft, ihre Patientinnen und Patienten enger zu begleiten, beispielsweise mit Fragebogen zum jeweiligen Gesundheitszustand oder mit konkreten Aufgaben, an denen Patientinnen und Patienten bis zur nächsten Therapiesitzung arbeiten können. Laut Berger, der das Spin-off mitgegründet hat und als Verwaltungsrat eng begleitet, wird ein Produkt entwickelt, welches die Praxisbedürfnisse nach dem neusten Stand der Wissenschaft abholt. Erste Kliniken testen die Lösung ab April 2023. Ab Herbst begleitet YLAH in Pilotkliniken Patientinnen und Patienten mit Angststörungen und Depressionen, unter anderem in der psychiatrischen Privatklinik Wyss. «Wenn sich das Tool bewährt, soll es breiter zugänglich werden,» sagt Berger. Ziel wäre, dass künftig auch selbständige Psychiaterinnen und Psychologen das Instrument in ihrer Praxis einsetzen können.

Benefits für Hausarztpraxen

Und wie sieht es mit dem Potenzial der Technik in der Hausarztpraxis aus? «Telemedizin kann Bagatellen aus der Hausarztpraxis fernhalten oder unnötige Notfalleintritte ausserhalb der regulären Öffnungszeiten verhindern», sagt Corinne Chmiel. Sie leitet die Abteilung Wissenschaft beim Ärztenetzwerk mediX schweiz und ist Leitende Ärztin für Allgemeine Innere Medizin in der mediX Praxis Friesenberg in Zürich. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich hat sie auch unterschiedliche Forschungsprojekte rund um Telemedizin und elektronisches Monitoring chronischer Krankheiten betreut.
Mit Telemedizin-Anbietern, wie sie inzwischen viele Patientinnen und Patienten als Teil der Krankenversicherung haben, hat Chmiel bisher gemischte Erfahrungen gemacht. Vom Konzept und von der Qualität her seien die Angebote in der Schweiz sehr unterschiedlich, hält die Ärztin fest und sagt: «Wir hatten schon Fälle, wo bei Patienten mit unmittelbar lebensgefährlichen Symptomen anstelle der Ambulanz der Arzt alarmiert wurde, der an diesem Abend zuhause telefonischen Notfalldienst hatte. Umgekehrt wurde auch schon eine Person mit etwas trockenem Mund dringend an den diensthabenden Notfallarzt verwiesen. Dort stellte sich heraus, dass diese Person an dem Tag noch nichts getrunken hatte.»
Um solche Fehltriagen zu verhindern, braucht es laut Chmiel gut ausgebildetes Fachpersonal, das Zugang zu den behandlungsrelevanten Daten aus der Krankengeschichte haben sollte. Das Ärztenetzwerk mediX arbeite derzeit mit verschiedenen Telemedizin-Anbietern daran, die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Telemedizin bei Patientinnen und Patienten mit Hausarztmodell künftig auf relevante Informationen zugreifen kann. Denn ohne Blick in die Krankengeschichte müsse oft übervorsichtig reagiert werden. Deshalb landen am Ende doch viele Personen wegen Bagatellen bei der Hausärztin oder auf dem Notfall. «Algorithmen alleine werden aus rechtlichen Gründen immer so vorsichtig sein müssen, dass sie zwar viele kritische Situationen erkennen mögen, aber viel zu viele unkritische Situationen falsch einstufen», sagt Chmiel und bilanziert: «Telemedizinprodukte sind kein Allheilmittel und haben verschiedene Limitationen. Sie werden auch in Zukunft nur eine kleine Komponente in der grossen Komplexität des Gesundheitswesens darstellen.»