Das Potenzial aller Gesundheitsberufe ausschöpfen

Leitartikel
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21554
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):26-27

Publiziert am 22.02.2023

Ärztemangel Die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen steigt deutlich schneller als die Zahl der Ärztinnen und Ärzte. Die Versorgungsengpässe machen es besonders wichtig, das Potenzial der nichtärztlichen Gesundheitsberufe möglichst gut auszuschöpfen.
In der Schweiz werden bald 9 Millionen Menschen leben. Mit einem jährlichen Wachstum von 0,9 Prozent in den letzten 20 Jahren ist unser Bevölkerungszuwachs der höchste in Europa [1]. Die Anzahl der Über-65-Jährigen nimmt noch schneller zu und übertrifft mittlerweile die Anzahl derjenigen, die ins Berufsleben eintreten [2]. Mehr als die Hälfte der erbrachten Gesundheitsleistungen werden von dem Viertel der Bevölkerung in Anspruch genommen, das über 60 Jahre alt ist, und der Anteil dieser Personengruppe dürfte bis zum Jahr 2050 rapide anwachsen.
Die Baby-Boomer-Generation hat einen starken Einfluss auf den Arztberuf. Mehr als ein Drittel der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte ist über 55 Jahre alt, wobei davon fast ein Viertel über 65 Jahre alt ist [3]. In der Grundversorgung ist fast ein Drittel der Ärzte über 60 Jahre alt und fast ein Fünftel der noch tätigen Ärzte hat bereits das Rentenalter erreicht [4].
Philippe Eggimann
Dr. med., Vizepräsident der FMH und Departementsverantwortlicher Dienstleistungen und Berufsentwicklung
Nimmt man all diese – schon lange absehbaren – Entwicklungen zusammen, erklärt sich, wie es zum aktuellen Ärztemangel kommen konnte. Die Schweiz hat über Jahrzehnte viel zu wenig ärztlichen Nachwuchs ausgebildet. Als dieses Problem behoben werden sollte, berechnete der Bundesrat in seiner «Strategie gegen Ärztemangel» von 2011 einen viel zu geringen Bedarf an Ärztinnen und Ärzten. Der kontinuierliche Zustrom diplomierter Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland hat über diese Realität hinweggetäuscht. Abgesehen von der Gefahr, dass dieser Migrationsstrom angesichts der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit bilateralen Abkommen versiegen könnte, wird der Mangel durch die zunehmende Verschlechterung der Berufsbedingungen verstärkt. So haben beispielsweise die administrativen Aufgaben so stark zugenommen, dass mittlerweile den Patientinnen und Patienten weniger als 50 Prozent der Zeit gewidmet wird.
Die Kompetenzen verschiedener Gesundheitsberufe können ineinander greifen, um eine bestmögliche Versorgung zu ermöglichen.
© Fsstock / Dreamstime

Hürden bei der Ärzteschaft

Nachdem die Anzahl der Medizinstudierenden in der Vergangenheit bewusst gesenkt wurde, reicht der jetzige Wiederanstieg nicht aus, um die Folgen des Renteneintritts der Baby-Boomer zu kompensieren. Die anhaltende Stigmatisierung der Ärzteschaft aufgrund ihrer vermeintlichen Verantwortung für den Anstieg der Gesundheitskosten macht den Beruf unattraktiver. Die Krönung des Ganzen: Nach 6 Jahren Studium und mindestens 5 Jahren Weiterbildung, die sie in der Westschweiz künftig nicht mehr frei wählen können [5], könnte ein bedeutender Teil von ihnen angesichts der streng begrenzten Möglichkeiten, sich zu etablieren, auf eine klinische Laufbahn verzichten.
Jene, die eine klinische Laufbahn einschlagen oder weiterverfolgen, riskieren eine berufliche Zukunft, in der die freie Arztwahl und die Therapiefreiheit nur noch für Menschen gilt, die es sich finanziell leisten können. Um eine gute medizinische Versorgung gewährleisten zu können, braucht es folglich nicht nur die Aus- und Weiterbildung von genügend Ärztinnen und Ärzten, sondern auch ein Gesundheitswesen, das ihnen eine befriedigende Berufsausübung erlaubt, damit sie den Beruf nicht verlassen [6].

Potenzial der Interprofessionalität

Die Aus- und Weiterbildung von mehr Ärzten und Ärztinnen sowie gute Rahmenbedingungen für ihre Berufstätigkeit sind also unverzichtbar, aber nicht die einzige Herausforderung für eine gute Patientenversorgung in der Zukunft. Gerade die aktuellen Versorgungsengpässe verdeutlichen, wie wichtig es ist, das Potenzial aller Gesundheitsberufe möglichst gut auszuschöpfen.
Diese Entwicklungen sollten der Bevölkerung zugutekommen. Die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen in der Patientenversorgung und eine gute Aufteilung und Koordination der Tätigkeiten ist schon lange eine Herausforderung, für die wir bessere Rahmenbedingungen fordern. Hierzu gehören unter anderem zeitgemässe Tarifierungsgrundsätze, die eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit ermöglichen. Neue Gesundheitsberufe mit erweiterten klinischen Qualifikationen (Advanced Practice) bieten dabei neue Chancen, Interprofessionalität entlang von klar definierten Kompetenzen zu fördern, um gemeinsam eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten und dem wachsenden Bedarf in der Bevölkerung gerecht zu werden.
Hierbei muss gut abgewogen werden, wo Fachkräfte mit erweiterten klinischen Qualifikationen ihre Leistungen in Eigenverantwortung erbringen können und wo es eine ärztliche Delegation braucht. Ärztlich delegierte Leistungen stellen für die Patientinnen und Patienten eine Garantie dar, dass es sich um Leistungen im Rahmen einer ärztlichen Behandlung handelt, also um ärztlich fundierte Entscheidungen, die einer ärztlichen Diagnose und einen Behandlungsplan folgen, die dann unter ärztlicher Verantwortung umgesetzt werden. Das Potenzial solcher delegierter Leistungen, die von entsprechend qualifizierten Fachkräften erbracht werden können, dürfte gross sein. Ein entscheidender Schwachpunkt wird aber sein, dass alle Gesundheitsberufe Mangelberufe sind. Diese Entwicklung dürfte sich noch akzentuieren und Mangelberufe können nicht durch Mangelberufe ersetzt werden. Auch die Sicherung der Finanzierung solcher Leistungen dürfte eine Herausforderung werden. Zum aktuellen Zeitpunkt ermöglicht allein die Delegierung der Verantwortung die Erstattung im ambulanten Bereich, also dort, wo der grösste Bedarf besteht. Vor diesem Hintergrund und im Sinne einer Weiterentwicklung der Interprofessionalität, für die sich die FMH mit den Vertretungen mehrerer anderer Gesundheitsberufe nachdrücklich einsetzt, sollte nun der nächste Schritt erfolgen.

Zukunft der Clinical Practitioners

Das Potenzial aller Gesundheitsberufe im Sinne einer optimalen Patientenversorgung möglichst gut auszuschöpfen, ist eines der Ziele des Departements Dienstleistungen und Berufsentwicklung der FMH. Derzeit definieren wir in Abstimmung mit unseren Partnern wie eine kompetenzbasierte Zusammenarbeit mit den neuen Fachpersonen mit erweiterten klinischen Qualifikationen aussehen könnte.
Die Frage lautet nicht mehr ob, sondern wie. Um mit Blick auf die notwendigen Kompetenzen eine einheitliche Qualität zu gewährleisten, setzt die delegierte oder eigenverantwortliche Erbringung von medizinischen Leistungen eine strukturierten Weiter- und Fortbildung voraus. Hier besteht für die Zukunft die grosse Herausforderung, für die Gesundheitsberufe mit erweiterter klinischer Praxis Konzepte zu entwickeln, die vergleichbar zur ärztlichen Weiter- und Fortbildung einen hohen Standard sicherstellen. Hier kann sich die Ärzteschaft mit ihren Erfahrungen in Bezug auf Akkreditierungs- und Zertifizierungsprozesse, die auch die Weiterbildungsstätten einschliessen, im Sinne einer guten Entwicklung einbringen. Das Ziel muss dabei sein, dass die Arbeit von Advanced Clinical Practitioners einheitlichen Kriterien unterliegt und eine gute Zusammenarbeit durch die Abstimmung mit der ärztlichen Praxis sichergestellt wäre.
1 The World Databank. http://wdi.worldbank.org/table/2.1#
2 www.bfs.admin.ch/bfs/fr/home/statistiques/population/evolution-future.assetd%20tail.12847543.html
3 Data NewIndex
4 Rapport OBSAN 1/2023. Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung – Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich
5 Reorganisation der postgradualen Ausbildung in der Westschweiz https://re-former.ch/
6 Rapport OBSAN 1/2023. Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung – Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich