Politikversagen Im Gesundheitswesen erleben Patienten und Patientinnen bislang unbekannte Engpässe. Während das Kostenwachstum seit 20 Jahren nachlässt, ist die Versorgungssicherheit zur grossen Herausforderung geworden. Diese Entwicklungen hat die Gesundheitspolitik verkannt.
Die Verschlechterung des Gesundheitswesens ist krass», titelten die Tamedia-Zeitungen Ende Januar und zitierten damit eine Patientin, die seit neun Jahren gegen eine Krebserkrankung kämpft. Was ihr bereits vorher auffiel, habe sich in den letzten drei Jahren verschärft: das Personal habe immer weniger Zeit, alle seien «extrem kurz angebunden – und die Fehlerrate nimmt zu» [1]. Meldungen dieser Art häufen sich: Es ist nicht mehr nur schwierig, eine Haus- oder Kinderärztin zu finden, auch die Notfallversorgung steht «am Rande des Zusammenbruchs» [2] mit schmerzhaften Folgen für Patientinnen und Patienten. Die psychiatrische Versorgung ist vielfach nicht mehr gewährleistet, immer häufiger sind Medikamente nicht mehr verfügbar, viele Spitalbetten können nicht mehr betrieben werden, Operationen müssen verschoben werden, Wartezeiten entstehen.
Wo sind jetzt die 20%?
Für die Fachpersonen im Gesundheitswesen kommen diese Zustände nicht überraschend. Die Warnungen von Apothekern, Pflege und Hausärzteschaft vor Medikamentenmangel und Versorgungsnotstand gehören seit Jahren zum medialen Hintergrundrauschen. Kurz vor der Pandemie, Ende 2019, sahen die FMH-Mitglieder in einer Umfrage unter anderem den Kostendruck in der Patientenversorgung, den Zeitdruck in der Arzt-Patienten-Beziehung sowie den Ärztemangel und die Sicherung der Versorgung als Top-Herausforderungen [3]. Die Gesundheitspolitik betrachtete hingegen vor allem den Schutz vor Überversorgung als Priorität: Beständig wurde wiederholt, es habe 20% Luft im System und brauche vor allem mehr Druck auf die Akteure und viel staatliche Regulierung um einer «nicht medizinisch indizierten Mengenausweitung» Einhalt zu gebieten. Sonst – so vermittelte uns das EDI mit vielen Studien, Experten und nicht zuletzt auch irreführenden Zahlen und Grafiken [4] – würden die Kosten bald unbezahlbar. Als Alain Berset im Mai 2022 dringend Reformen anmahnte, damit nicht «das System irgendwann kollabiert», meinte er nicht die Versorgungssicherheit – sondern das angeblich «ungebremste Kostenwachstum» [5].
Wo sich genau die 20% Luft im System versteckt haben, bleibt in diesen Tagen offen [6]. Die Pandemie zeigte: Auf den Intensivstationen stecken sie offensichtlich nicht, in der Pflege ohnehin nicht. Auch der Blick auf die Haus- und Kinderärzte, die Notfallstationen und in die Psychiatrie lässt es eher zynisch erscheinen mit mehr Kostenverantwortung «Mengenausweitungen» verhindern zu wollen. Nicht einmal bei den privat Zusatzversicherten, lassen sich die vielfach kritisierten Überbehandlungen systematisch aufzeigen [7].
Folgen des Kostenröhrenblicks
Was wir nun spüren, sind auch die Folgen einer Politik, die über lange Zeit Gesundheitsfachpersonen und Medikamente in erster Linie als Kostenfaktoren betrachtet hat. Die Pflege spricht von einer «historischen Überlastung» [8]. Bei Ärztinnen und Ärzten ist die Auslandsabhängigkeit so gross wie noch nie. Die Berechnung der bundesrätlichen «Strategie gegen Ärztemangel», dass man lediglich 1200 bis 1300 neue Ärzte und Ärztinnen pro Jahr brauche [9], erwies sich als realitätsfremd: Im Jahr 2021 erkannte die Schweiz allein aus dem Ausland 2736 Arztdiplome an, zusätzlich zu den 1118 inländisch erteilten Arztdiplomen [10]. Trotz dieser Erfahrungen sollen heute für die Zulassungsregulierung Versorgungsgrade auf Basis nicht belastbarer Zahlen berechnet werden: Das neue Gesetz zur Vermeidung einer «Ärzteflut» provoziert heute bereits Unterversorgung [11].
Bürokratie statt Patienten
Mit dem Fachkräftemangel steigt die Gefahr eines Teufelskreises, bei dem das verbleibende Personal wegen Überlastung ebenfalls noch aussteigt. Verschärft wird die Situation durch die vielen administrativen Arbeiten, die Fachpersonen von der Patientenversorgung abhalten – und demotiviert. Spitalärztinnen der Akutsomatik verbringen heute rund 17 Stunden pro Woche allein mit den zeitraubendsten administrativen Tätigkeiten [12] - über zwei Stunden mehr als 2013. Auch in der Grundversorgung kostet die Bürokratie zunehmend Arbeitszeit. Bereits 2015 sahen 50% der Grundversorger den Zeitaufwand für Versicherungen und Abrechnungen als Problem an, heute sind es 68% – damit belegen wir den internationalen Spitzenplatz [13].
Basis der Qualität erodiert
Ironischerweise sind es auch «Qualitätsaktivitäten», die den Grundversorgerinnen die Zeit für die Patientinnen rauben. Dass sie Qualitätsdaten für staatliche oder andere Akteure zusammenstellen müssen, betrachteten 2015 nur 33% der Grundversorger als Problem, heute sind es 45% – und diese Zahl könnte noch weiterwachsen: Nach dem neuen Qualitätsgesetz und der ersten Qualitätskommission von 2021, plant die Politik bereits neue Qualitätsziele und eine zweite Qualitätskommission. Es dürfte noch nie so viele Qualitätsaktivitäten gegeben haben – gleichzeitig erodieren die zentralen Voraussetzungen von qualitativ hochstehender Arbeit: Wo es nicht genügend Fachkräfte gibt, wo die Zeit für die Patienten fehlt, wo Sprachprobleme bestehen, wo Medikamente nicht verfügbar sind und Gesundheitsfachpersonen beständig die Kostenbrille aufgezwungen wird, wird der medizinischen Qualität jegliche Grundlage entzogen.
Diskreditierung der Fachpersonen
So wie mehr Qualitätsgesetze die Patientenversorgung nicht unbedingt verbessern [14], kann auch das Erzwingen eines untauglichen EPD eine erfolgreiche Digitalisierung bremsen [15] oder eine staatlich regulierte «Koordination» die patienten-zentrierte Zusammenarbeit der Fachpersonen erschweren [16]. Wenn Akteure des Gesundheitswesens mit ihrem Praxiswissen auf solche Probleme hinweisen und nicht zielführende Regulierungen kritisieren, gelten sie aber leider nicht als Verbesserer, sondern als Verhinderer. Diejenigen, die sich Tag für Tag für Patientinnen einsetzen, wurden in den letzten Jahren kaum als Experten und Partnerinnen betrachtet, sondern als Lobbyisten und Profiteure im Selbstbedienungsladen diskreditiert [17]. Wer auf Gefahren für die Versorgungssicherheit hinwies, galt als Angstmacher mit finanziellen Motiven [5, 18]. Geschlossener Protest derjenigen, die das Gesundheitswesen aus ihrer täglichen praktischen Arbeit kennen, wurde sogar als Gütesiegel für Gesetzesvorhaben gewertet [19, 20]. Wo es Zuhören und Zusammenarbeit gebraucht hätte, wurden Kritiker pauschal abqualifiziert.
Zentrale Zukunftstrends verpasst
Gleichzeitig blieb trotz Behördenausbau und vieler Expertinnen der Trend unbemerkt, dass das Wachstum der Gesundheitskosten in den westlichen Industrieländern seit 20 Jahren zurückgeht – völlig unabhängig von den einzelnen Gesundheitssystemen [21, 22]. Man hat verschlafen, dass aus dem Kostenproblem ein Versorgungsproblem geworden ist und statt Überversorgung Unterversorgung droht. Wo die Politik mit Planwirtschaft gegen Ärzteflut, Mengenausweitung und Kostenexplosion kämpfte, sind Auslandsabhängigkeit, Regulierungsexplosion und Versorgungsengpässe eingetreten [23]. Auch das Digitalisierungspotenzial blieb ungenutzt: Laut «eHealth» Strategie des Bundes sollten sich seit 2012 alle Beteiligten strukturierte medizinische Daten übermitteln können [24], im Jahr 2023 müssen selbst fast alle meldepflichtigen Krankheiten immer noch per Fax oder Post ans BAG gemeldet werden [25].
Die aktuellen Probleme unseres Gesundheitswesens haben sich lange entwickelt und werden sich nicht schnell lösen lassen. Umso wichtiger ist es, sie ohne Zögern und effizient anzugehen – mit den Akteuren des Gesundheitswesens als Partner. Denn nicht nur für Patientinnen ist es fatal, wenn alle «extrem kurz angebunden» sind und sich Fehler häufen. Auch wir möchten so nicht arbeiten – und setzen uns darum für Verbesserungen und Versorgungssicherheit ein.
9 Strategie gegen Ärztemangel und zur Förderung der Hausarztmedizin. Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Motion 08.3608 von Nationalrätin Jacqueline Fehr „Strategie gegen Ärztemangel und zur Förderung der Hausarztmedizin“ vom 2. Oktober 2008; 23.11.2011
13 Pahud O. Obsan Bericht 2019; Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung – Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich. Analyse des International Health Policy (IHP). Survey 2019 der amerikanischen Stiftung Commonwealth Fund im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) sowie neueste Zahlen
22 Smith SD, Newhouse JP, Cuckler GA (2022). Heath care spending growth has slowed: will the bend in the curve continue? National bureau of economic research: Working paper 30782; URL: https://www.nber.org/papers/w30782