Wasser predigen, Wein trinken

Praxistipp
Ausgabe
2023/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21563
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(09):72-73

Publiziert am 01.03.2023

Wellbeing Der Arztberuf kann anstrengend sein. Je mehr man sich um die Gesundheit anderer kümmert, desto weniger Zeit hat man für sich selbst. Patientinnen und Patienten profitieren aber, wenn wir als Vorbilder mit gutem Beispiel vorangehen. Warum also nicht erst mal vor der eigenen Tür kehren?
Wir sind wirklich die Schuster mit den schlechtesten Schuhen. Wir haben ständig mit Therapie und Prävention zu tun. Wir lesen Artikel um Artikel und diskutieren über die Vor- und Nachteile von Behandlungen. Unablässig jagen wir kaum erreichbaren Kennzahlen hinterher. Sind wir uns unseres eigenen Verhaltens eigentlich bewusst? Wäre nicht bei unseren eigenen Kennzahlen das Verbesserungspotenzial am grössten, ein Eingriff gar am dringendsten?

Obst und Gemüse statt Cola?

Wer von Ihnen hält die fünf Obst- und Gemüseportionen pro Tag ein? Zu Beginn meiner Assistenzzeit habe ich stressbedingt grundsätzlich auf Mahlzeiten verzichtet. Grossartig als Diät. Langfristig weniger empfehlenswert. Jetzt motiviere ich die Mitarbeitenden, wenigstens eine kurze Mittagspause einzulegen. Ich merke abends nämlich sehr wohl, ob ich nur neben der Arbeit etwas hinuntergeschlungen oder vielmehr in der Cafeteria ein paar Minuten von der Hektik abgeschaltet habe. Man tankt auf. Und man merkt, wie wichtig diese kurzen geselligen Momente im Team sind, die einem während der Pandemie so fehlten.
Essen ist eine Sache, aber es gibt auch Spielraum für Verbesserungen bei dem, was man schlürft. Vor Dienstende wartet noch ein Stapel Briefe und man fragt sich: Welchen schnellen Zuckerkick kann ich finden, um noch ein paar Stunden durchzuhalten? Was soll’s, ist eben mal ein besonders harter Tag heute. Nur werden solche Tage allzu bald zum Normalfall. Immer wieder staune ich über die vielen Kaderärzte, bei denen eine Limoflasche aus dem Kittel ragt. Dagegen bringen immer mehr junge Leute täglich eine ausgewogene Verpflegung und Obst in der Tupperdose mit. Das muss möglich sein. Folgen wir ihrem Beispiel, wenn wir es schon nicht selbst geben.
© Luca Bartulović

Dein Arzt bewegt sich

Wer erinnert sich nicht an den herrlichen Slogan «Ton toubib se bouge» (Dein Arzt bewegt sich) von Waadtländer Ärzten bei einem Volkslauf? Er war Teil des Projekts «Courir pour prévenir» (Laufen zur Prävention) von Dr. Potin und den Mitgliedern der Waadtländer Ärztegesellschaft, die mit gutem Beispiel vorangingen. Bei der Weiterbildung oder Einarbeitung verbringt man so viel Zeit vor dem Computer, bis sich die Hosen an den Knien ausbeulen. Auch dies ein modifizierbarer Risikofaktor. Um uns ein Getränk oder auch mal einen Snack zu genehmigen, sollten wir statt des Aufzugs die Treppe nehmen und ein paar Etagen zusätzlich gehen, um uns die Beine zu vertreten und abzuschalten. Das setzt mehr Endorphine frei als der so begehrte Zucker. Vielleicht nehmen wir öfter gemeinsam die Treppe? Und noch eine Herausforderung: Warum nicht mal eine Stunde Weiterbildung durch eine Runde Joggen mit dem gesamten Team ersetzen? Ist es nicht auch eine Form der Fortbildung, wenn man lernt, Zeit für sich selbst einzuplanen?

Sollte ich einen Kollegen aufsuchen?

Wie viele von Ihnen haben einen Hausarzt? Ich betreue nicht wenige Kolleginnen und Kollegen mit Burnout. Wer endlich Hilfe annimmt, gibt oft zu, keinen Hausarzt zu haben, obwohl gerade eine aussenstehende Person, die den Alltag eines Arztes kennt, eine entscheidende Stütze sein kann. Wenn Sie einen Arzt haben – haben Sie ihn in den letzten fünf Jahren gesehen? Haben Sie möglicherweise wochenlang versucht, ihn zu erreichen, leider immer ausserhalb der Sprechzeiten oder in der Warteschleife, bis Sie es aufgaben, weil es Dringenderes zu tun gab? Und wussten Sie − wenn Sie dann einen Termin hatten − nicht, wie Sie sich die Zeit dafür herausschneiden sollen? Da ich lange für die Dienstpläne verantwortlich war, habe ich nicht selten äusserst verlegene Ärzte gesehen, die ihre Abwesenheit wegen eines Termins ankündigten, als wäre es ein Verbrechen.
Geben wir uns also einen Ruck und schauen wir in den Spiegel: Bewegen wir uns, essen wir gesünder, nehmen wir die Treppe – und vereinbaren wir einen Termin bei unserem Hausarzt. Gehen wir mit gutem Beispiel voran. Für unsere Patienten, aber auch für unsere Kollegen. Denn auch wenn wir schlechte Schuhe tragen – wir haben das Know-how und die Werkzeuge, um sie neu zu besohlen.
Dr. med. Vanessa Kraege
Die Internistin ist stellvertretende ärztliche Direktorin des Universitätsspitals Lausanne (CHUV).