Kommentar

Im Land der digitalen Möglichkeiten

Interview
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21572
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):20-24

Publiziert am 08.03.2023

Digitale Gesellschaft Estland ist Pionier in Sachen E-Health. Die elektronische Patientenakte ist dabei nur ein Aspekt. Im Interview erklärt Neeme Tönisson von der estnischen Ärztegesellschaft, weshalb Daten bedenkenlos geteilt werden – und was er noch verbessern will.
Neeme Tönisson, Estland ist beim Thema E-Health europaweit führend. Woher kommt diese Vorreiterrolle?
Als Estland 1991 unabhängig wurde, wollten wir Neues ausprobieren. Wir haben also E-Government-Strukturen aufgebaut, und da war es naheliegend auch ein paar mutige Schritte in Richtung E-Health zu gehen. 2005 wurde zu diesem Zweck die E-Health-Stiftung gegründet.
Was ist das Kernelement des estnischen E-Health-Systems?
Die elektronische Patientenakte. Darin werden die medizinischen Berichte über einen Fall dokumentiert. Also: Wenn ein Patient eine Ärztin besucht, wird der Fall eröffnet, und wenn der Fall abgeschlossen ist, gibt es eine Zusammenfassung. Diese wird von den ärztlichen Praxen oder den Spitälern ins zentrale System, eine technische Plattform, eingespeist. Ausserdem werden dort die ICD-Codes erfasst, die internationale Klassifikation der Krankheiten. Für Laboranalysen, Bildgebung und Rezepte gibt es dort ein Archiv. Wir sind wirklich froh, ein solch zentrales System zu haben, wo prinzipiell die wichtigsten Daten für Ärztinnen und Ärzte zugänglich sind, sowie auch für Patientinnen und Patienten. Sie dienen aber auch statistischen Zwecken und der estnischen Biobank. Wir haben heute 20% aller Erwachsenen in der Biobank und erweitern das kontinuierlich.
Und wie viele Estinnen und Esten sind im zentralen E-Health-System erfasst?
Alle, die über die nationale Krankenversicherung versichert sind, sind automatisch Teil von E-Health. Das sind weit über 90 Prozent. Die Daten von Personen aus dem Ausland und von solchen, die nur kleine Privatspitäler besuchen, gehen eher nicht ins System. Manche sensible Daten auch nicht – wenn Sie beispielsweise in eine gynäkologische Privatklinik gehen, die keine Zusammenfassungen ins System speist. Es gibt immer Ausnahmen, etwa bei Fertilitätskliniken oder auch bei Privatspitälern für Männerheilkunde. Auch die Zahnmedizin ist nicht erfasst – letztlich die Dienstleistungen, die privat finanziert werden.
Wie funktioniert das digitale System in der Praxis?
Sie erhalten einen ID-Code. Wenn Sie sich in einem E-Health-Portal einloggen, gibt es verschiedene Kategorien. Medizinisches Fachpersonal erhält den Zugang zu den Systemen der einzelnen Gesundheitsanbieter, also beispielsweise eines Spitals und erst dann den Zugang zur zentralen Datenbasis. Es muss nämlich zuerst bestätigt werden, dass Sie berechtigt für den Zugriff sind. Patientinnen und Patienten haben Zugang zu einem anderen Portal und erhalten Zugriff auf ihre jeweils individuellen Daten.
Prof. Dr. med. Neeme Tönisson ist Genetiker am Universitätsspital Tartu, Gruppenleiter bei der estnischen Biobank, Vorstandsmitglied der estnischen Ärztegesellschaft und E-Health Spezialist.
Was sehen Patientinnen und Patienten dort?
Sie sehen, wer auf ihre Daten und diejenigen ihrer Kinder Zugriff hat. Dort können sie auch ihre persönlichen Daten – also Kontaktangaben – aufdatieren. Und sie können auch anderen eine Erlaubnis erteilen. Das ist insbesondere für ältere Menschen wichtig, damit sie Familienangehörigen Zugang ermöglichen. Sie sehen darüber hinaus, wer auf ihre Patientenakte zugegriffen, wer sie gelesen hat.
Haben auch Versicherungen Zugriff?
Diese können nur über Ärztinnen und Ärzte zugreifen. Damit Lebensversicherungen oder private Krankenversicherungen Zugriff erhalten, müssen Patientinnen und Patienten ihr Einverständnis geben.
In der Schweiz gibt es in Bezug auf E-Lösungen eine grosse Diskussion um den Datenschutz. Wie sieht es diesbezüglich in Estland aus?
In Estland haben die Menschen viel weniger Angst vor Lecks persönlicher Daten. Das liegt daran, dass unser Gesundheitssystem auf Solidarität basiert. Die Arbeitgeber speisen einen Teil der Löhne ins Gesundheitssystem und damit in die staatliche Versicherung ein. Es gibt deshalb weniger Spielraum für Repressionen, beispielsweise bei chronischen Krankheiten oder genetisch bedingten Erkrankungen, weshalb die Leute weniger Angst vor Datenlecks haben. Bei privaten Versicherungen könnte das anders aussehen, oder beispielsweise beim Abschluss einer Lebensversicherung.
Die Leute sind der Digitalisierung gegenüber also positiv eingestellt?
Die Leute sehen sie tatsächlich kaum als Bedrohung. Ich habe beobachtet, dass die Menschen in anderen europäischen Ländern viel wachsamer sind. Natürlich gibt es auch bei uns soziale und politische Gruppierungen, welche die Angst vor einer staatlichen Überwachung schüren, aber generell ist die Haltung anders. Die Leute schätzen es, dass sie Zugang zu ihren persönlichen Daten haben.
Liegt das vielleicht auch daran, dass Estland ein Land mit einer relativ jungen Bevölkerung ist?
(lacht) Wir haben auch eine alternde Gesellschaft. Aber auch die älteren Menschen schätzen die Vorteile des Systems und möchten, dass die Lücken geschlossen werden.
Wo liegen denn die Lücken?
Die jetzige Infrastruktur datiert etwa von 2005. Wir haben einige Modifikationen vorgenommen. Es gab Verbesserungen, insbesondere bei der Zugänglichkeit für Patientinnen und Patienten, aber auch bei den Laboranalysen. Letztere sind, wie die Patientenakten und Rezepte, schon ziemlich gut erfasst. Aber es vergeht viel Zeit von der Eröffnung eines Falls bis zur Zusammenfassung. Die Menschen bewegen sich zwischen verschiedenen Erstbehandelnden, Spezialistinnen und Spezialisten sowie Spitälern. Das könnte verbessert werden, wenn wir einen Real-Time-Access zwischen den verschiedenen Involvierten hätten. Heute basiert das System auf den Berichten: Wenn ein Hausarzt jemanden zum Spezialisten überweist, erstellt dieser einen Report, der ebenfalls weitergereicht wird. Man findet also den Report im zentralen System, aber nicht die ursprünglich erhobenen Informationen. Das gilt auch für hospitalisierte Personen: Dort werden beispielsweise die täglichen Protokolle nicht erfasst. Ein lückenloses Update der Daten fehlt also.
Was möchten Sie konkret verbessern?
Die grösste Kritik betrifft die zentrale Dokumentation: Wenn Sie bestimmte Daten haben wollen, müssen Sie sehr lange suchen. Wir wollen ein datenzentriertes System mit mehr gesundheitsbezogenen, strukturierten Daten. Ich gebe ein Beispiel: Der Glukoselevel im Blut ist in einer Laboranalyse gut zu finden. Aber Angaben zum BMI oder zum Blutdruck können vielleicht in irgendwelchen Textdateien gefunden werden. Diese Suche ist schwierig.
Das würde aber heissen, dass man einen Standard festlegen müsste, der für alle Gesundheitsanbieter gilt.
Ja, das ist richtig. Strukturierte Daten und Real-Time-Erfassung: In diese Richtung muss es gehen, und bei uns läuft diesbezüglich auch gerade eine Initiative. Das ganze E-Health-System muss aktualisiert werden, aber wir sind noch in einem frühen Stadium.
Wo liegen denn die praktischen Vorteile eines zentralen Systems?
Da die Leute oft zwischen den einzelnen Institutionen wechseln, ist es sinnvoller, eine nationale Lösung als spitalbasierte Lösungen zu haben. Wir stellen fest, dass die Leute Zweitmeinungen einholen, zwischen verschiedenen Ärzten wechseln. Wenn etwas nur spitalbasiert ist, sind diese Daten für andere Spezialisten verloren.
Beraten Sie auch andere Länder bezüglich E-Health?
Ja, sicher. Natürlich müssen alle den Persönlichkeitsschutz berücksichtigen, aber ich denke, es führt kein Weg an E-Health vorbei. Es braucht auf Länderebene gute E-Health-Systeme, je umfassender, umso besser. Ich würde diesbezüglich keine Grenzen setzen. Auf europäischer Ebene läuft zurzeit eine Initiative für den «European Health Data Space». Das befindet sich noch in einem frühen Stadium, aber Estland könnte als gutes Beispiel dienen. Wir möchten unser System auch möglichst kompatibel mit einem gesamteuropäischen System machen. Das Hauptziel dieses europäischen Gesundheitsraums ist meines Wissens ein besserer Zugang zu den eigenen Daten sowie ein besserer Austausch zwischen den Ländern. Die Länder suchen auch nach einer vorteilhafteren Zweitnutzung der Daten. So sollen Gesundheitsstatistiken verfeinert werden – basierend auf echten empirischen Daten.
Wie sieht es mit der Forschung aus? Ist es in Estland Standard, dass Patientendaten für Forschungszwecke genutzt werden können?
Für statistische Zwecke ist die Zweitnutzung standardmässig ohne spezielle Zustimmung erlaubt. Wenn Sie in eine Studie einbezogen werden, müssen die Forschenden Ihre Erlaubnis einholen.
Wo liegen die grössten Herausforderungen in Ihrem Land?
Eine liegt darin, den Widerstand der Spitäler zu überwinden. Manche sehen die Notwendigkeit eines zentralen Systems nicht ein, sie sind kompetitiv, alle wollen immer noch ihr eigenes System haben. Dabei ist Estland so klein, wir könnten alle Daten im E-Health-System haben.
Warum wehren sich die Spitäler?
Sie sind daran gewöhnt so zu arbeiten, wie es immer war und nichts zu verändern. Ich habe aber beobachtet, dass die Leute heute viel mehr zwischen den Spitälern und anderen Anbietern wechseln. Egal welche chronische Krankheit Sie haben, Sie werden nicht Ihr Leben lang beim gleichen Hausarzt bleiben, höchstwahrscheinlich konsultieren Sie im Lauf Ihres Lebens mehrere Ärztinnen oder Ärzte wegen desselben Problems.
Welches Zwischenfazit ziehen Sie?
Ich sehe wirklich die Vorteile eines nationalen E-Health-Systems und freue mich auf weitere Verbesserungen: für Patientinnen und Patienten, die Ärzteschaft und fürs ganze Land. Wir freuen uns auch, wenn das europäische System sauber aufgegleist wird, sodass es allen Beteiligten hilft und sie nicht einschränkt.
Wenn Sie sagen, besser für die Patienten – was ist da konkret gemeint?
Ein Beispiel sind Medikationspläne beispielsweise älterer Menschen: Welche Medikamente müssen täglich eingenommen werden, welche nur punktuell? Strukturierte Daten würden das erleichtern. Schön wäre es auch, beispielsweise Erinnerungen an bevorstehende Arzttermine zu erhalten.

E-Health in Estland

Zentrales Element des digitalisierten Gesundheitswesens in Estland ist die 2008 eingeführte elektronische Patientenakte (ePA). Diese enthält grundsätzlich sämtliche medizinische Daten der staatlich versicherten Estinnen und Esten – das sind über 90 Prozent der Bevölkerung. Zugriff auf die ePA haben die Patientinnen und Patienten sowie alle Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal und weitere Gesundheitsprofis, die an der Behandlung beteiligt sind. Patientinnen und Patienten können einzelne Abschnitte der Akte sperren lassen, etwa bei psychischen Erkrankungen. Mit dem elektronischen Personalausweis, der 2002 eingeführt wurde, erhalten sie Zugang zur digitalen Infrastruktur. In den vergangenen Jahren wurde das E-Health-System kontinuierlich ausgebaut, beispielsweise mit dem E-Rezept, das Verordnungen mit wenigen Klicks ermöglicht und Alternativpräparate anzeigt. Seit 2016 werden über das System auch Warnhinweise über mögliche Wechselwirkungen an Apotheker und Ärztinnen verschickt. Ausserdem sind seit 2015 auch die Rettungswagen vernetzt: Das Personal ist mit einem Tablet ausgestattet, mit dessen Hilfe Notärztinnen und -ärzte sowie das Pflegepersonal auf die ePA zugreifen und das aufnehmende Krankenhaus vorab auf mögliche Komplikationen – beispielsweise Unverträglichkeiten – hinweisen können.

Einblicke ins Ausland

In einer losen Serie nehmen wir den ärztlichen Alltag in anderen Ländern in den Fokus.
Eine Delegation der FMH hatte 2019 eine Studienreise nach Estland durchgeführt. Die Erlebnisse waren beeindruckend: Es begann mit dem e-Estonia-Showroom, wo uns auf eindrückliche Weise gezeigt wurde, wie Estland den Schritt in eine digitale Gesellschaft vollzogen hat. Selbst die Beschaffung des Weihnachtsbaums ist in Estland digitalisiert. Mithilfe einer App erhalten die Einwohner die Koordinaten eines Weihnachtsbaums in einem staatlichen Wald, um diesen selbst zu fällen. Die Einführung einer E-ID vor mehr als 20 Jahren dürfte die Grundlage und ein Erfolgsfaktor der weit fortgeschrittenen Digitalisierung gewesen sein.
Die langwierigen Diskussionen über die Einführung einer E-ID in der Schweiz und die damit verbundenen Verzögerungen führten bei uns leider dazu, dass die Eröffnung eines elektronischen Patientendossiers heute unnötig mühsam ist. Aber auch in Estland hat die Umsetzung der nationalen E-Strategie Zeit benötigt, was die Komplexität von E-Health-Projekten unterstreicht. Von der initialen Planung etwa im Jahr 2000 bis zur Umsetzung der ersten E-Health-Anwendungen vergingen zehn Jahre. Dann ging es jedoch sehr rasch, nicht zuletzt durch eine nachhaltige staatliche Finanzierung. Seit 2010 verfügt Estland auch über ein elektronisches Rezept.
In der Schweiz bedurfte es einer Initiative von FMH und pharmaSuisse, damit das E-Rezept voraussichtlich nächstes Jahr landesweit eingeführt werden kann. Was wir von Estland auch lernen können: Die Digitalisierung kann nutzbringend als Problemlösungsinstrument eingesetzt werden. So wurde uns im East-Tallinn Central Hospital die E-Konsultation gezeigt, die als Reaktion auf den Fachärztemangel entwickelt wurde. Allerdings war nicht immer alles perfekt: Beispielsweise war der Zugriff auf das elektronische Patientendossier aus dem Primärsystem mit Mehrarbeit verbunden. Die Ärztin, die uns das System vorführte, trug es mit Fassung. Vielleicht lag das auch daran, dass Estland seinen Ärztinnen und Ärzten im Gegensatz zur Schweiz Anreize für die Digitalisierung bietet, die unter anderem auch ein fest zugewiesenes IT-Budget beinhalten.
Dr. med. Alexander Zimmer
Mitglied des FMH-Zentralvorstandes und Departmentsverantwortlicher Digitalisierung/eHealth
1 Gabriele Kaczmarczyk. Medical Women On Top [Internet]. Deutscher Ärztinnenbund, Herausgeber. 2022. Verfügbar unter: https://www.aerztinnenbund.de/DAEB-Dokumentation_Medical_Women_On_Top.2557.0.2.html
2 FMH-Ärztestatistik [Internet]. FMH. [zitiert 18. Oktober 2022]. Verfügbar unter: https://www.fmh.ch/themen/aerztestatistik/fmh-aerztestatistik.cfm
3 Kraft, Esther, Loretan, Lisa, van der Heiden , Nico. Jeder zehnte Arzt steigt aus. Schweiz Ärzteztg [Internet]. 23. August 2016 [zitiert 18. Oktober 2022];97(34). Verfügbar unter: https://doi.emh.ch/saez.2016.04953
4 Hostettler S, Kraft E. Jeder vierte Arzt ist 60 Jahre alt oder lter. Schweiz Ärzteztg [Internet]. 29. März 2022 [zitiert 18. Oktober 2022]; Verfügbar unter: https://doi.emh.ch/saez.2022.20609
5 Coach my Career Mentoring Programm [Internet]. FMH. [zitiert 15. November 2022]. Verfügbar unter: https://www.fmh.ch/dienstleistungen/stationaere-tarife/coach-my-career.cfm
6 Filling the Gap [Internet]. Universität Zürich; [zitiert 15. November 2022]. Verfügbar unter: http://www.med.uzh.ch/de/Nachwuchsfoerderung/fillingthegap.html
7 Aiming Higher - Karriereentwicklung für Assistenzärztinnen [Internet]. Executive School of Management, Technology and Law (ES-HSG). [zitiert 15. November 2022]. Verfügbar unter: https://es.unisg.ch/de/weiterbildung/aiming-higher-karriereentwicklung-fuer-assistenzaerztinnen/