Ihr Körper, ihre Entscheidung?

Praxistipp
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21591
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(11):72-73

Publiziert am 15.03.2023

Recht Die Berichte von Frauen, die Gewalt in der Geburtshilfe erlitten haben, häufen sich. Ohne ihre ausdrückliche Einwilligung erleben sie die Entbindung als einen Moment der Entmündigung. Wie ist die einschlägige Gesetzeslage in der Schweiz?
Die freie und informierte Einwilligung ist der Eckpfeiler des modernen Medizinrechts. Dank dieses Rechtsprinzips ist es gelungen, die lange Zeit ungleiche, hierarchische Arzt-Patienten-Beziehung ausgeglichener zu gestalten. Bei der Geburtshilfe scheint die freie und informierte Einwilligung jedoch nicht ganz angekommen zu sein. In den letzten Jahren haben viele Frauen die Erfahrung gemacht, dass ihre Wünsche bei der Entbindung nicht respektiert werden. Gewalt in der Geburtshilfe umfasst etwa ohne Einwilligung erfolgte unnötige, übergriffige oder brutale Interventionen sowie verbale und psychische Gewalt.
© Luca Bartulović

Die Entbindung – eine Krankheit?

Die Medikalisierung der Geburtshilfe hat wesentlich zum Rückgang der Mütter- und Neugeborenensterblichkeit beigetragen. In Notfällen ist es rechtlich gestattet, von der freien und informierten Einwilligung abzusehen. Solche Notfall-Interventionen müssen begründet und dokumentiert werden. Gleichwohl bilden Notfälle eine Ausnahme. Eine Geburt ist grundsätzlich eine natürliche und keine pathologische Situation. Es besteht keinerlei Rechtsgrund dafür, während der Geburt nicht die gleichen Einwilligungsstandards anzuwenden wie bei anderen medizinischen Handlungen. Zeitlicher und wirtschaftlicher Druck etwa rechtfertigen keineswegs unnötige und ohne Einwilligung erfolgende Massnahmen zur Geburtsbeschleunigung.

Die Entmündigung der Frau

Gewalt in der Geburtshilfe ist mittlerweile ein juristisch brisantes Thema. Der wichtigste Text in diesem Zusammenhang ist das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), das in der Schweiz 1997 in Kraft trat. Im Jahr 2022 verurteilte der CEDAW-Ausschuss mit Spanien erstmals ein Land wegen geburtshilflicher Gewalt gegen eine Frau. In diesem – wenn auch extremen – Fall, der Wiedergutmachungszahlungen nach sich zog, hat der Ausschuss Gewalt in der Geburtshilfe definiert als eine besondere Form von Gewalt gegen Frauen bei der stationären Entbindung, die nachweislich weit verbreitet, ihrem Wesen nach systematisch und tief in den Versorgungssystemen verwurzelt ist.
Das Phänomen der Gewalt in der Geburtshilfe offenbart einen paradoxen Blick auf den weiblichen Körper, zwischen der Befähigung während der Schwangerschaft (medikalisierte Schwangerenbetreuung, Kampagnen bezüglich Risikoverhalten) und der Entmündigung zum Zeitpunkt der Entbindung. Diese Entmündigung führt zu einer Situation, in der die freie und informierte Einwilligung der Frau nicht immer respektiert wird.

Ein rechtliches Paradoxon

Wie kann man Gewalt in der Geburtshilfe rechtlich dingfest machen? Über die internationalen Rechtsmechanismen hinaus bietet das schweizerische Recht die üblichen Wege über den Grundsatz der freien und informierten Einwilligung, die durch Artikel 10 der Bundesverfassung, Artikel 28 des Zivilgesetzbuches und die einschlägigen kantonalrechtlichen Bestimmungen garantiert ist. Eine Frau, die Opfer von Gewalt in der Geburtshilfe geworden ist, kann ihre Rechte über diese Bestimmungen geltend machen.
Während Verfassung und Zivilrecht die freie und informierte Einwilligung der Frau zu medizinischen Handlungen während der Geburt vorschreiben, behält das Strafrecht weiterhin den Begriff der beeinträchtigten Urteilsfähigkeit bei. Gemäss Artikel 116 des Strafgesetzbuches gelten für eine Frau, die ihr Kind während oder unmittelbar nach der Geburt tötet, mildernde Umstände bezüglich der Ahndung ihrer Handlung. Das Strafrecht nährt damit die Vorstellung, die gebärende Frau sei nicht im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten, was durch einschlägige wissenschaftliche Studien widerlegt ist. Diese Vorstellung wirkt sich nachteilig auf die Art und Weise der Behandlung aus, die Frauen unter der Geburt vom Gesundheitssystem erfahren. Sie leistet fachlichen und institutionellen Einstellungen Vorschub, die zu medizinischen Interventionen ohne oder gegen die erklärte Einwilligung führen. Um Gewalt in der Geburtshilfe vorzubeugen, muss dieses Frauenbild aus dem Recht und aus der medizinischen Praxis verschwinden.
Prof. Dr. Mélanie Levy
Assistenzprofessorin und Co-Direktorin am Institut für Gesundheitsrecht, Rechtsfakultät der Universität Neuenburg, Leiterin eines SNF Eccellenza-Forschungsprojekts