Emma und ihre neun Medikamente pro Tag

Wissen
Ausgabe
2023/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21612
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(12):78-79

Publiziert am 22.03.2023

Arzneimittel Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen nehmen zu viele Medikamente ein. Eine Studie in den Kantonen Waadt und Freiburg zeigt, dass ärztlich-pharmazeutische Qualitätszirkel die Verschreibungen reduzieren. Könnte das auch in anderen Kantonen gelingen?
Die Rentnerin Emma (Name von der Redaktion geändert) lebt in einem Altersheim im Kanton Waadt. Vor ihr liegt eine durchsichtige Kunststoffdose. Darin befinden sich in etikettierten, farblich gekennzeichneten Fächern die neun Medikamente, die sie täglich einnehmen muss. Sie fühlt sich damit überfordert. Dabei ist diese Menge gar nicht aussergewöhnlich. Laut einer Studie erhalten Personen in Alters- und Pflegeheimen (APH) in der Schweiz durchschnittlich 9,3 Medikamente pro Tag [1]. Das birgt Risiken gefährlicher Wechselwirkungen, etwa zwischen Schlafmitteln und Neuroleptika.

Optimierung der Behandlung

Wie kann man diesem Trend entgegenwirken? Eine Studie von Dr. Anne Niquille aus dem kürzlich abgeschlossenen Nationalen Forschungsprogramm (NFP 74) hat untersucht, welche Rolle die Qualitätszirkel von Ärztinnen und Ärzten sowie Apothekerinnen und -Apothekern (CQMP) hinsichtlich der Medikationsverbesserung in den APH und der Förderung des Deprescribing spielen [2]. Das Projekt begann mit einer Sondierungsphase: «Das Prinzip der pharmazeutischen Betreuung wurde bereits 2002 im Kanton Freiburg und 2010 dann im Kanton Waadt eingeführt», so die Apothekerin. Trotz dieses interprofessionellen Ansatzes habe sie festgestellt: Von den 7,3 Standarddosen an Medikamenten, die in den APH, die sie untersuchte, durchschnittlich täglich an ältere Menschen verabreicht wurden, waren 2,2 Dosen potenziell unangemessen. «Als wir mit unserem Forschungsprojekt begannen, steckte das Konzept des ‘Deprescribing’ in den Kinderschuhen und hatte noch kaum Eingang in die Praxis gefunden.»
2018 und 2019 folgten zwei klinische Studien in 58 APH der Kantone Waadt und Freiburg. Die erste diente der Konsensfindung. Bestimmte unangemessene Anwendungen von «relativ einfach zu entschreibenden» Medikamentenkategorien sollten ohne Sicherheitsrisiko verringert werden. Die zweite Studie wurde in sieben APH durchgeführt, an 62 Personen mit «relativ komplexen klinischen Situationen». Es ging darum, den Zusatznutzen einer individuellen Therapieüberprüfung zu bewerten.

Das Projekt des NFP 74

«Interprofessionelle Qualitätszirkel verbessern Medikation in Alters- und Pflegeheimen» war ein Projekt des kürzlich abgeschlossenen Nationalen Forschungsprogramms «Gesundheitsversorgung» (NFP 74), das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wurde. Geleitet wurde es von Dr. Anne Niquille, stellvertretende Chefapothekerin und Mitglied der Forschungsgruppe Pharmazie bei Unisanté (Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin und Gesundheitswesen, Lausanne).

Ermutigende Resultate

Das Projekt endete 2019. «Wir konnten zeigen, dass sich die beiden untersuchten Interventionsarten günstig auswirkten und für das APH-Personal machbar waren», sagt die Forscherin. Eine weitere Feststellung seien die positiven Reaktionen der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Angehörigen auf das Deprescribing: «Das Absetzen von Medikamenten wird nicht als Behandlungsentzug wahrgenommen», entgegen den Bedenken mancher Fachkräfte. Einen Wermutstropfen gibt es: «Wir konnten nicht so viele APH rekrutieren, wie wir uns gewünscht hätten. Möglicherweise befürchteten manche Ärzte, von den Apothekern ‘kontrolliert’ zu werden.» Doch auch dies bewahrheitete sich nicht: «Die Beteiligten haben gelernt, im Rahmen der eigenen Kompetenzen miteinander zu kommunizieren, Erfahrungen auszutauschen und so im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner zu einer Optimierung der Medikation zu gelangen.»
Und heute? «Die Interventionen werden im Kanton Waadt mit der Unterstützung der Generaldirektion Gesundheit weitergeführt, und wir versuchen, sie auf andere finanzierungsbereite Kantone auszudehnen. Zudem möchten wir die Bewohnerinnen und Bewohner stärker einbinden und mit ihnen zusammen Kommunikationshilfen entwickeln − auch und gerade weil sie an kognitiven Beeinträchtigungen leiden.»

Institutionalisiert im Kanton Waadt …

In der Apotheke Calpini in Chexbres ist Laetitia Pache Ansprechpartnerin des Qualitätszirkels für das Pflegeheim La Colline: «Wir waren Teil des Pilotprojekts. Wir sind immer noch beteiligt, allerdings mehr an personalisierten Medikationsüberprüfungen und weniger an APH-übergreifenden Massnahmen. Je nach Komplexität der Fälle dauert es zwischen zwei und acht Stunden, um eine Überprüfung der Verschreibungen durchzuführen und festzustellen, was beim Eintritt in das APH wegfallen kann.» Und: «Wir haben das Glück, dass es im Kanton Waadt eine (öffentliche, Anm. d. Red.) Abgeltung für diese Projekte gibt.» Im ambulanten Bereich, wo es hinsichtlich Anreizen und Unterstützung durch die öffentliche Hand anders aussehe, sei das Prinzip der CQMP noch wenig verbreitet, bedauert sie.
In den Nachbarkantonen, etwa im Wallis und in Genf, ist diese Art der Finanzierung noch nicht vorgesehen. Der Professor und Arzt Christophe Graf, Leiter der Abteilung für Wiedereingliederung und Geriatrie am Universitätsspital Genf, ist dennoch überzeugt von dem Konzept, das er bereits in seiner Zeit als ärztlicher Direktor des APH La Gracieuse in Lonay anwandte.
Durchschnittlich 9,3 Medikamente pro Tag erhalten Menschen in Schweizer Alters- und Pflegeheimen. Neue Qualitätszirkel wollen dies ändern.
© Serezniy / Dreamstime

… und auch darüber hinaus?

Die CQMP wären auch für die Genfer APH ein gangbarer Weg; im Moment sei man diesbezüglich aber noch «in der Entwicklungsphase», gibt er zu bedenken. Der Ansatz finde vor allem bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten Anwendung, insbesondere im Rahmen von Versorgungsnetzwerken wie Réseau Delta, wo jeder Arzt und jede Ärztin ein Statut unterschreibt und sich zur Qualität, insbesondere in Qualitätszirkeln, aber auch zur Effizienz und Wirtschaftlichkeit verpflichtet, in Absprache mit den Patientinnen und Patienten und den Krankenkassen. Am Willen, «lieber besser als mehr» zu verschreiben, mangelt es also nicht. Es gebe weitere Arten von Anreizen und Instrumenten, die den verschiedenen Akteuren bei der Entscheidungsfindung helfen und zu einem Deprescribing führen können, etwa die START-/STOPP-Kriterien.
Christophe Graf nennt weitere Herausforderungen: Neben dem Nachweis der allgemeinen Zufriedenheit mit dem Ansatz gehört dazu die Schwierigkeit, anhand von Patienten-Outcomes zu belegen, dass CQMP und Deprescribing tatsächlich Stürze und Agitiertheit in einer Einrichtung verringern. Andere Grenzen seien strukturell bedingt, von den Fachpersonen, die für eine APH intern oder extern tätig sind, über den Willen der Heimdirektionen, selbst einen CQMP zu gründen und zu finanzieren, bis hin zu dem teils automatischen Rückgriff auf Arzneimittel, ohne Berücksichtigung von Alternativen. «Ein mittels Polymedikation ruhig gestellter Patient ist kein guter Patient», schliesst er.
Lesen Sie auch das Interview mit Prof. Dr. med. Milo Puhan über das NFP 74 auf Seite 12.

Die Qualitätszirkel Ärzte-Apotheker

Das Prinzip der Qualitätszirkel Ärzte-Apotheker (CQMP) wurde Ende der 1990er Jahre in der Schweiz eingeführt, mit dem Ziel, die Medikamentenverschreibung besser und sicherer zu gestalten. Die Zirkel bringen auf freiwilliger Basis Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker zusammen, um die jeweiligen Verschreibungsdaten statistisch zu analysieren, relevante pharmakologische Auskünfte zu erteilen, Fragen aus dem Praxisalltag zu beantworten und einen Konsens hinsichtlich einer «Guten Praxis» zu erzielen. Diese interdisziplinäre Fortbildung findet vorzugsweise im Rahmen eines lokalen oder regionalen Netzwerks statt.