«Wir müssen Alzheimer noch besser vorbeugen»

«Wir müssen Alzheimer noch besser vorbeugen»

Wissen
Ausgabe
2023/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21613
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(13):70-71

Publiziert am 29.03.2023

Demenz Zur Alzheimer-Krankheit gibt es laufend neue Erkenntnisse. Dieses Wissen kann zur Prävention beitragen. Ein internationales Team unter der Leitung von Giovanni Frisoni hat neu einen «Leitfaden» entwickelt, um Gedächtniskliniken für Gesunde zu gründen.
Giovanni Frisoni, nehmen Alzheimer-Erkrankungen zu?
Insgesamt steigen die Fallzahlen aufgrund der Alterung der Bevölkerung. Jedoch erkranken die Menschen eher im höheren Lebensalter: Das Durchschnittsalter, in dem sich die Krankheit entwickelt, ist in den vergangenen dreissig Jahren gestiegen. Das liegt an der gesünderen Lebensweise, die unser Gehirn widerstandsfähiger gegen Demenz gemacht hat. Eine solche «unbeabsichtigte» Prävention genügt aber nicht. Wir können und müssen Alzheimer noch besser vorbeugen. Mit spezifischen Massnahmen lässt sich das Risiko weiter senken.
Wie könnten solche Massnahmen aussehen?
Wir verfügen über ein Netzwerk an Gedächtniskliniken für Menschen, die bereits an einer kognitiven Beeinträchtigung leiden. In der Schweiz gibt es etwa dreissig solcher Memory Clinics. Dagegen kümmert sich niemand um Menschen, die noch keine Symptome zeigen. Genau diese Zielgruppe wollen wir mit unseren Gedächtniskliniken der zweiten Generation erreichen. Sie könnten auf dem aktuellen Netzwerk an Gedächtniskliniken aufbauen und von bereits bestehenden Technologieplattformen und Fachwissen profitieren. Konzeptuell könnte man sich dabei auch an die Zentren zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen anlehnen.
Gibt es solche Initiativen bereits?
Ein Pilotprojekt wurde im schottischen Edinburgh gestartet, ein weiteres in Stockholm, in Schweden. In den USA haben sich einige private Initiativen gebildet. Eine internationale Konferenz wird sich 2024 mit den Lehren aus diesen ersten Erfahrungen befassen. Zudem planen wir ein Pilotprojekt in der Schweiz, das innerhalb des Genfer Gedächtniszentrums angesiedelt sein wird.
Was passiert konkret in einer Gedächtnisklinik der zweiten Generation?
In einem ersten Schritt wird beurteilt, ob die untersuchte Person ein niedriges, mittleres oder hohes Risiko aufweist. Es gibt zwölf umwelt- und lebensstilbedingte Risikofaktoren, die einzeln betrachtet nur mit einem geringen Demenzrisiko assoziiert sind. Liegen jedoch mehrere davon gleichzeitig vor, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Demenzentwicklung signifikant. Dazu gehören Diabetes, Adipositas, Umweltverschmutzung, Depression, soziale Isolation oder Bewegungsmangel. Im zweiten Schritt wird abgeklärt, ob eine bestimmte genetische Mutation des Apolipoproteins E, namentlich das Epsilon-4-Allel, nachweisbar ist. Diese ist mit einem hohen Alzheimer-Risiko assoziiert. Im dritten Teil der Beurteilung wird das Vorliegen bestimmter toxischer Proteine (Beta-Amyloid und Tau) im Gehirn gemessen. Das erfordert entweder eine Lumbalpunktion oder eine Positronen-Emissions-Tomografie – beides belastende Untersuchungen, die nicht auf breiter Basis durchgeführt werden können. Allerdings werden aktuell Biomarker-Bluttests auf diese beiden Proteine entwickelt, die in Bälde praxisreif sein dürften. Damit ändert sich die Situation grundlegend.

Praxistaugliches Modell

Die internationale Task Force unter der Leitung von Giovanni Frisoni, bestehend aus 43 Experten für Altersdemenz aus 28 Institutionen, hatte sich zum Ziel gesetzt, auf der Grundlage von wissenschaftlicher Literatur sowie eigenen Erfahrungen und dem jeweiligen Fachwissen die wirksamsten Instrumente zur Demenzprävention auszuwählen. Daraus entstand ein praxistaugliches Modell, das sich auf vier Säulen (Risikobewertung, Risikoaufklärung, Risikosenkung und Stärkung der kognitiven Funktionen) stützt und als Grundlage für den Aufbau erster Gedächtniszentren der zweiten Generation dienen wird.
Was ist der nächste Schritt, wenn das Risiko der Person ermittelt ist?
Dann muss sie über dieses Risiko aufgeklärt werden. Jemandem zu erklären, dass er oder sie ein hohes Alzheimer-Risiko hat, ist weder offenkundig noch banal. Wenn einem Patienten mitgeteilt wird, dass er Prostatakrebs hat, ist das zwar nicht angenehm, aber zumindest klar. Die Risikoaufklärung dagegen erfordert spezielle Techniken. Um einer Person zu vermitteln, dass sie ein fünffach höheres Demenzrisiko hat als der Durchschnitt, kann man beispielsweise eine entsprechende grafische Darstellung heranziehen.
Kann eine so aufgeklärte Person etwas tun, um ihre kognitiven Fähigkeiten zu erhalten?
Das ist der entscheidende Punkt. Wir wissen, dass eine Intervention in mehreren Bereichen das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, deutlich reduzieren kann. Dazu gehören ernährungsspezifische Massnahmen, vermehrte körperliche Aktivität, die Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren sowie kognitives Training in Form von Problemlösungsaufgaben.
Gibt es präventive Therapien?
Es gibt Daten, die belegen, dass Elektro- und Magnetstimulation das Gedächtnis verbessern können. Zudem wissen wir, dass monoklonale Anti-Amyloid-Antikörper das Fortschreiten des kognitiven Abbaus verlangsamen können, wenn dieser bereits eingesetzt hat. Aktuell wird in klinischen Studien untersucht, ob sich damit auch der Eintritt eines kognitiven Abbaus bei noch asymptomatischen Hochrisikopersonen verhindern lässt. Die Ergebnisse werden in etwa zwei Jahren vorliegen. Zu den experimentelleren Ansätzen gehören medikamentöse Interventionen. Mehrere Wirkstoffe haben vielversprechende Ergebnisse geliefert. Ferner untersuchen wir die Auswirkungen von probiotischen Interventionen auf das intestinale Mikrobiom. Dies ist einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte am Genfer Gedächtniszentrum.
Senior couple doing Nordic Walking with dog
Vermehrte körperliche Aktivität kann das Risiko reduzieren, an Alzheimer zu erkranken.
© Robert Kneschke / Dreamstime
Gedächtniskliniken der zweiten Generation richten sich an Menschen, die sich Sorgen um ihre kognitiven Fähigkeiten machen. Besteht nicht die Gefahr, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu kurz kommen?
Zunächst müssen wir nachweisen, dass wir bei Menschen, die auf eigene Initiative zu uns in die Kliniken kommen, das Demenzrisiko senken können. Anschliessend lassen sich diese Interventionen dann auf die Allgemeinbevölkerung ausweiten. In 10 bis 15 Jahren wollen wir zu einer nationalen Präventionsstrategie gelangen, die in den Hausarztpraxen umgesetzt werden soll.
Und wie sieht es mit Ländern aus, die sich solche Strukturen nicht leisten können?
Es trifft zu, dass Gedächtniskliniken der zweiten Generation zunächst hauptsächlich in Ländern mit hohem Einkommen entstehen werden. Die Einrichtung eines solchen Zentrums kostet mehrere Millionen Franken. Langfristig hoffen wir jedoch, die Erfahrungen aus den Pilotprojekten auch an Entwicklungsländer weitergeben zu können.
Prof. Dr. med. Giovanni Frisoni
Professor für klinische Neurowissenschaften und Leitender Arzt der Gedächtnissprechstunde am Universitätsspital Genf und an der Universität Genf, deren Gedächtniszentrum er leitet.