Einmal tief einatmen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21618
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(12):82

Publiziert am 22.03.2023

Als mein Grossvater als kleiner Junge ein Problem mit der Lunge hatte, brachten ihn seine Eltern in die Berge in ein Sanatorium. Jahrzehnte später erinnerte er sich vor allem noch daran, dass ihn seine Eltern ohne Verabschiedung dort gelassen hatten – eine vom Sanatorium empfohlene Strategie. Wie meinem Grossvater erging es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielen Menschen. Seit den 1870er Jahren strömten Lungenkranke aus dem In- und Ausland in die Schweizer Berge. An Orte wie Davos im Bündnerland, Heiligenschwendi im Berner Oberland oder Crans-Montana im Wallis, wo sich insbesondere Tuberkulosekranke bei einer Frischluftliegekur erholen konnten [1]. Dass die Lungensanatorien genau dann und genau dort entstanden, ist kein Zufall. Erlebten doch die Berge Ende des 19. Jahrhunderts eine Deutungsverschiebung: Von gefährlichen und unnahbaren Orten hin zu Stätten der Naturnähe und Ursprünglichkeit – und somit der Gesundheit [2].
Rahel Gutmann
Junior Redaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung
Von diesem neuen «Image» der Berge zeugen auch Projekte aus dem Umfeld der Lebensreform, deren Vertreterinnen und Vertreter um die Jahrhundertwende nach einer «naturgemässen» Lebensweise suchten. Diese Suche führte viele von ihnen hinaus aufs Land und – wiederum nicht zufällig – in die Höhe. Man denke zum Beispiel an die lebensreformerische Kolonie auf dem Monte Verità bei Ascona [3]. Oder an das Sanatorium «Lebendige Kraft» auf dem Zürichberg von Dr. Maximilian Bircher-Benner, dem Erfinder des Birchermüeslis. Dieses war von der Stadt zwar per Strassenbahn erreichbar, bot seinen Gästen mit dem ausladenden Garten und dem Blick ins Hochgebirge aber bewusst eine möglichst naturnahe Umgebung. Das kam gut an. Auch hierhin zog es Erholungsbedürftige aus dem In- und Ausland, die sich bei Gartenarbeit, Sonnenbädern und karger Kost von der Hektik und den Leiden der modernen Gesellschaft befreien wollten [4, 5]. Näher am Ursprung, näher an einem gesunden Körper und näher an einem gesunden Geist. So die Idee.
Viele der medizinischen und experimentellen Vorstellungen dieser Zeit sind inzwischen überholt. Die «Lebendige Kraft» musste ihre Türen schliessen und auf dem Monte Verità befindet sich heute ein Konferenzzentrum der ETH. Auch die imposanten Lungensanatorien können zwar zum Teil weiterhin bestaunt werden, sind aber inzwischen geschlossen oder wurden zu Hotels umgewandelt. Was zum einen an der medizinischen Entwicklung liegt und zum anderen daran, dass die Kuren bei genauerem Hinschauen wenig Wirkung zeigten [1].
Doch nicht alles hat sich verändert. Das Birchermüesli essen wir heute noch und die positive Deutung der Schweizer Berge mit ihrer kräftigenden Luft ist ungebrochen. Das weiss auch Schweiz Tourismus. Kein Wunder, fällt die Gründung der ehemaligen «Nationalen Vereinigung zur Förderung des Reiseverkehrs» 1917 doch genau in die beschriebene Zeit. Gute hundert Jahre später wollte die Organisation den Schweizer Gesundheitstourismus erneut ankurbeln und neben Wellnesstouristen auch sogenannte «Medical Guests» in die Schweiz bringen, die hier neben Sightseeing auch gleich einen Herz-Check-up oder einen Eingriff vornehmen lassen können. Weshalb gerade in der Schweiz? Na wegen ihrer «klaren, frischen Luft»! Und natürlich wegen des hochstehenden medizinischen Angebots. Das geht aus einer Marketingpräsentation von Schweiz Tourismus aus dem Jahr 2019 hervor, die mit Bildern aus den Schweizer Bergen aufwartet [6]. Dass die Bergluft als Argument verwendet wird, zeigt, wie prägend und wirkungsmächtig gewisse Vorstellungen sein können. Sogar solche, die schon über ein Jahrhundert alt sind. Wie viel an der heilvollen Bergluft wirklich dran ist? Ich weiss es nicht. Doch über Ostern werde ich in die Berge fahren und der Sache auf den Grund gehen. Oder besser gesagt entgegen wandern.
1 Ritzmann I. Sanatorien. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.05.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014073/2017-05-04/
2 Graf F, Wolff E. Zauber Berge. Die Schweiz als Kraftraum und Sanatorium. Hier und Jetzt; 2010.
3 Schwab A. Monte Verità. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.11.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027825/2009-11-17/
4 Jagella-Danoth C. Bircher-Benner, Maximilian Oskar. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom .03.11.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014295/2010-11-03/
5 Wolff E. Medikale Landschaften. Das Sanatorium als gedachte und gelebte Gesundheitsgeographie. In: Eschenbruch N, Hänel D, Unterkircher A (Hg.). Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit. Transcript; 2010.