Gesundheit hat viele Gesichter

Essay
Ausgabe
2023/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21632
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(12):16-19

Publiziert am 22.03.2023

Ethik Ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit? Und wer definiert überhaupt, was als krank und was als gesund gilt? Der Theologe und Ethiker Frank Mathwig zeigt, wie sehr die Ziele medizinischen Handelns mit dem kulturell geprägten Verständnis von Gesundheit und Krankheit zusammenhängen.
Im 18. Jahrhundert hatte der holländische Arzt Hermann Boerhaave jedem Menschen «seine besondere Gesundheit» attestiert [1], dem zu Beginn des folgenden Jahrhunderts der Autor Ludwig Börne beipflichtete: «Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit.» [2] Heute gibt es ungefähr 30 000 Krankheiten und maximal zwei Gesundheiten: die Gesundheit in der Selbstwahrnehmung der einzelnen Person und die Gesundheit aus Public-Health-Perspektive. Gesundheit zeigt sich paradoxerweise gerade in einer spezifischen Form von Abwesenheit. Der Chirurg René Leriche entdeckte sie im «Schweigen der Organe» [3] und in den Augen des Philosophen Hans Georg Gadamer war sie nicht etwas, «das sich bei einer Untersuchung zeigt, sondern etwas, das gerade dadurch ist, dass es sich entzieht» [4]. Dazu passt der Befund des Medizinhistorikers Cornelius Borck zum Gesundheitsbegriff in medizinischen Lehrbüchern: «Gesundheit ist kein Gegenstand der heutigen Medizin.» [5] Nebenbei bestätigt die Beobachtung die verbreitete Alltagsmeinung, dass es für die eigene Gesundheit riskant sei, sich in die Hände der Medizin zu begeben. Gesundheit kann nicht dort gesucht werden, wo Menschen hingehen, wenn sie krank sind und sich körperlich und/oder psychisch unwohl fühlen. Wer das allerdings als Medizinkritik missversteht, hat nicht begriffen, worum es in der Medizin geht.

Abwesenheit von Krankheit

Niklas Luhmann konstatierte nüchtern, dass von einem System, das auf Krankheit gestreamt ist, nicht Gesundheit erwartet werden kann. Die medizinische Codierung «gesund» – «krank» beruht für den Soziologen auf einer «perverse[n] Vertauschung der Werte»: «[D]er positive Wert ist die Krankheit, der negative Wert die Gesundheit. Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. […] Gesunde sind, medizinisch gesehen, noch nicht oder nicht mehr krank oder sie leiden an noch unentdeckten Krankheiten.» [6]
Der systemtheoretische Blick stellt das üblicherweise unterstellte Verhältnis von Gesundheit und Krankheit auf den Kopf: Krankheit ist nicht ein Mangel an Gesundheit, sondern Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit lässt sich – analog zum menschen- und grundrechtlichen Würdebegriff – zwar negativ als Abwesenheit oder Bruch bestimmen, aber nicht abschliessend positiv definieren. Natürlich bildet eine diagnostizierte Krankheit die krankheitsrelevante Abweichung von einem medizinisch definierten Normalwert. Aber die Therapie oder Korrektur der Abweichung ist funktional auf den Erkrankungswert und nicht auf die individuelle Gesundheit der behandelten Person bezogen [7].
Gleich und doch so verschieden: Gesundheit hat für jeden Menschen eine andere Ausprägung.
© Wilson100 / Dreamstime

Erwartungen an die Medizin

Das medizinische Desinteresse an der Gesundheit ist grundsätzlich unspektakulär, weil eine funktionale Medizin auf angestrebte und zu vermeidende Folgen fokussiert – und nicht auf übergeordnete Ziele der Person oder ein Telos des Lebens. Von der Medizin sollte alles erwartet werden, nur nicht das Falsche. Die Frage nach der Gesundheit ist nicht zuletzt eine der angemessenen Adressierung und korrekten Verortung. Beides ist aktuell in Bewegung. Die Pädiaterin Priscilla Chan und ihr Ehemann Mark Zuckerberg kündigten an, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts alle Krankheiten besiegen zu wollen. Gleichzeitig rief Tim Cook von Apple zum Kampf gegen die Enteignung der eigenen Gesundheit durch die Medizin auf. Das Ziel hatte den bekanntesten Medizinkritiker des 20. Jahrhunderts, Ivan Illich, berühmt gemacht, dessen «Die Nemesis der Medizin» von 1975/76 mit der fulminanten Behauptung einsetzt: «Die etablierte Medizin hat sich zu einer ersten Gefahr für die Gesundheit entwickelt.» [8]
Daran schliesst die These an, «dass der Laie, und nicht der Arzt, potentiell den Überblick und die effektive Macht besitzt, der heutigen iatrogenen Epidemie ein Ende zu setzen» [9]. War die Medizinkritik des katholischen Theologen und Philosophen Teil einer umfassenden wissenschaftlich-technologischen, ökonomischen und politischen Systemkritik, kehren die Datenkonzerne den Spiess um und erklären die digitalen Technologien zur Lösung der medizinischen Misere. Die Gesundheit wird an kleine Geräte im, auf und am Körper delegiert, die akribisch Daten aufzeichnen, in entlegenen Wüsten speichern und auswerten, ohne je zu vergessen. Die Compliance-Technologien perfektionieren die alte Vorstellung vom Auge Gottes, dem nichts entgeht. Die disziplinierende Wirkung beruht auf einem archaischen Schamregime, das die Befürchtung wachhält, nicht dass tatsächlich gesehen, aber dass konsequent sanktioniert wird.

Die Rolle der kranken Person

Der Wechsel von der Beobachtungsperspektive der dritten Person zur Beteiligungsperspektive in der ersten Person kennzeichnet auch das literarische Genre autobiografischer Krankheitserzählungen. Der kanadische Soziologe Arthur W. Frank reflektiert in «The Wounded Storyteller» seine Krebserkrankung aus autobiografischer und wissenschaftskritischer Sicht. Er vergleicht die Rolle der kranken Person im Medizinsystem mit der Situation von kolonialisierten Menschen unter einer Kolonialherrschaft. Beide Systeme brauchen ihre jeweilige Klientel zur Konstruktion der eigenen Legitimationserzählungen, ohne sie jenseits und ausserhalb dieser Funktion anzuerkennen beziehungsweise anerkennen zu müssen [10].
Zwar benötigt die Medizin den kranken Körper, aber erkennt ihn nicht als denjenigen der kranken Person an. Frank illustriert das Missverhältnis am Beispiel eines Krebspatienten, der ihm die medizinische Fachpublikation seiner Krankheitsgeschichte zeigt, die von der eindrucksvollen Therapie des behandelten Arztes berichtet, aber den Patienten anonymisiert und seine Leidensgeschichte vollständig übergeht. Die medizinische Dislokation der erkrankten Person in ihrer Krankheitsgeschichte wirft die Frage nach dem Platz der Patientinnen und Patienten in den medizinischen Erzählungen auf. Dem krebskranken Soziologen geht es nicht darum, die medizinischen und autobiografischen Erzählungen gegeneinander auszuspielen. Vielmehr kritisiert er den hegemonialen Anspruch und die halbierende «Vereindeutigung» [11] medizinischer Narrative und plädiert stattdessen für die Inkommensurabilität von medizinischen und autobiografischen Erzählungen.

Vortrag bei Trendtagen Gesundheit

Frank Mathwig wird bei den Trendtagen Gesundheit am Mittwoch, 22. März 2023 einen Vortrag über das Thema «Wo steckt die Gesundheit? – Ethische Erkundungen zwischen Körper, Geist und Seele» halten. Weitere Informationen unter www.trendtage-gesundheit.ch/de/TGL-2023/Programm_2023.

Zwischen Gesundheit und Krankheit

Obwohl die Anliegen der Konzerne aus Silicon Valley und Arthur W. Frank weit auseinandergehen, stimmen sie in ihrem kulturellen Verständnis von Gesundheit und Krankheit überein. Gesundheit steckt in dem naturwissenschaftlich-medizinisch (zivilisatorisch) vermessenen Körper der in kulturellen Lebens-, Normierungs- und Deutungswelten eingeordneten Person. In Abwandlung eines Neologismus von Arthur W. Frank gehört Gesundheit zur «remission culture» [12]. Ihre Mitglieder bewegen sich zwischen Gesundheit und Krankheit, ohne vollständig einer Seite anzugehören und ohne absehen zu können, auf welche Seite sie aktuell oder tendenziell zusteuern. Erfolgreich therapierte Krebspatientinnen und -patienten seien halbe Opfer, die halbe Entscheidungen träfen, sie seien nicht (nur) Opfer der Umstände, aber die Umstände würden ihre Wahlmöglichkeiten mehr oder weniger einschränken [13]. Die Mitglieder der «remission society» nehmen die Details des Lebens genauer wahr, weil ihre Krankheit sie den Wert, aber auch die Gefahr des Alltäglichen lehre [14].

Mehr kulturelle Diversität

Die Mesoperspektive von Krebspatientinnen und -patienten kann, wie Frank selbst andeutet, auch gesamtgesellschaftlich gestreamt werden. Die Betonung der Ambiguität individuellen Gesundheits- und Krankheitserlebens und der Inkommensurabilität unterschiedlicher Erzählperspektiven verbindet die Idee der «remission culture» mit aktuell diskutierten Diversitätskonzepten. Die «disability studies», die «deaf culture» oder das «neurodiversity movement» kämpfen für die Selbstartikulation persönlicher Identitätserfahrungen in der 1.-Person-Perspektive und gegen die (bio-)medizinischen Identitätszuschreibungen aus der 3.-Person-Perspektive. Exemplarisch dafür steht das Statement des Neurodiversitätsaktivisten Jim Sinclair: «Autismus ist nicht etwas, das jemand hat […]. Autismus ist eine Seinsweise. Sie ist allgegenwärtig; sie prägt jede Erfahrung, jede Empfindung, Wahrnehmung, jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Begegnung, jeden Aspekt der Existenz. Es ist nicht möglich, den Autismus von der Person zu trennen – und wäre es möglich, dann wäre die Person, die herauskäme, nicht mehr dieselbe, von der ausgegangen wurde.» [15] Sinclair plädiert nicht für einen verständigungsorientierten Paternalismus 2.0, sondern für kulturelle Diversität, die das Nicht- und Missverstehen einkalkuliert und einfordert. In diesem Setting zählen die subjektiven Selbstverständnisse, auch wenn sie in keine medizinischen Kategorien passen, und die medizinischen Perspektiven, auch wenn sie sich in der kulturellen Diversität (immer wieder) neu kalibrieren müssen.
Das Thema «Health and Culture» begegnet zumeist im Blick auf kulturelle Minderheiten aber kaum mit Fokus auf die Mehrheitsgesellschaft, ihre Krankheits- und Gesundheitsverständnisse [16]. Das epistemologische Paradigma vom kulturübergreifenden, universalen Status einer naturwissenschaftlichen fundierten Medizin erschwert eine kulturelle Sicht auf Medizin. Es ist nicht ohne Weiteres anschlussfähig an die pluralen Sprachspiele über Gesundheit und Krankheit in diversen Lebenswelten. Während für eine naturwissenschaftliche Perspektive auf Medizin das Ideal der Eindeutigkeit unverzichtbar ist, akzeptiert eine kulturkritische Sicht auf Medizin die Zumutungen der Ambiguität, also das Nebeneinander inkommensurabler Sichtweisen und Deutungen. Damit werden nicht die medizinischen Expertisen und Kompetenzen infrage gestellt oder relativiert. Vielmehr werden die Ziele medizinischen Handelns funktional auf die kulturell imprägnierten Gesundheits- und Krankheitsverständnisse der betroffenen Person bezogen. Denn es geht um die Gesundheit, «die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde» [17].
Prof. Dr. theol. Frank Mathwig
Beauftragter für Theologie und Ethik der ev.-ref. Kirche Schweiz sowie Titularprofessor für Ethik an der Universität Bern und Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE)
1 Herman Boerhaave, Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis. Lugdunum Batavorum 1709; zit. n. Philip van der Eijk/Roman M. Marek/Detlev Ganten, Einleitung: Reflexionen über den Gesundheitsbegriff in seinem Kontext: dies. (Hg.), Was ist Gesundheit? Interdisziplinäre Perspektiven aus Medizin, Geschichte und Kultur, Berlin, Boston 2021, 1–11 (3).
2 Ludwig Börne, Gesammelte Schriften. Neue vollständige Ausgabe, Bd. 7., Hamburg 1862, 195.
3 Zit. n. Georges Canguilhem, Gesundheit: Alltagsbegriff und philosophische Frage: ders., Schriften zur Medizin, Zürich, Berlin 2013, 43–61 (43).
4 Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt/M. 1993, 126.
5 Cornelius Borck, Medizinphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016, 69.
6 Niklas Luhmann, Der medizinische Code: ders., Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen 1990, 183–195 (186f.).
7 Anders akzentuiert die bekannte Definition der WHO; https://www.who.int/about/governance/constitution; vgl. auch die Unterscheidung zwischen «biological» und «lived body» bei Havi Carel, Can I be Ill and Happy?: Philosophia 35/2007, 95–110 (98f.).
8 Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin, Reinbek 1981, 9.
9 Illich, Nemesis, 10.
10 Vgl. Arthur W. Frank, The Wounded Storyteller. Body, Illness and Ethics. Second Edition, Chicago 2013, 11. Frank zitiert in dem Zusammenhang aus den postkolonialen Studien von Gayatri Chakravorty Spivak.
11 Vgl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Dietzingen 2018.
12 Vgl. Frank, Storyteller, 8: «I used the term ‹remission society› to describe all those people who, like me, were effectively well but could never be considered cured.»; vgl. ders., At the Will of the Body. Reflections on Illness, Boston, New York 1991, 138–142.
13 Vgl. Frank, Will, 138f.
14 Vgl. Frank, Will, 139.
15 Jim Sinclair, Don’t Mourn for Us: Our Voice 1/1993 H. 3, 1: https://philosophy.ucsc.edu/SinclairDontMournForUs.pdf (28.02.2023).
16 Vgl. Deborah Lupton, Medicine as Culture. Illness, Disease and the Body, London u. a. 32012, VIII; A. David Napier et al., Culture and health: The Lancet online October 29, 2014: 1–33.
17 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen, Kapitel 33–42, Frankfurt/M. 1985, 539.