Die Gamer-Brille für den Ernstfall

Wissen
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21633
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):78-79

Besprochener Wirkstoff

Publiziert am 05.04.2023

Ophthalmologie Es klingt wie aus einem Science-Fiction-Film: neurologisch bedingte Sehstörungen mit einer Gamer-Brille diagnostizieren. Ein Berner Start-up hat genau das entwickelt. Funktioniert das wirklich? Wir haben die Brille angeschaut und nachgefragt.
Eine Velofahrerin stürzt. In den Tagen und Wochen nach ihrem Unfall merkt sie, dass es ihr zu schaffen macht, wenn sie zu viele visuelle Reize verarbeiten muss – etwa in einem Bahnhof oder auf einer belebten Strasse. Die MRI-Untersuchung zeigt keine Auffälligkeiten. Augenarzt Dr. med. Mathias Abegg stellt jedoch fest, dass die horizontalen Augenbewegungen der Patientin verlangsamt sind. Dies deutet auf eine Verletzung im Hirnstamm hin.

Eine ausgezeichnete Idee

Abegg stellt diese Diagnose, indem er die Bewegung der Pupillen beobachtet, wenn die Patientin mit den Augen einen Gegenstand verfolgt, der sich bewegt. In Zukunft will Abegg dafür eine Art Gamer-Brille einsetzen, die aufzeichnet und analysiert, wie die Augen auf visuelle Reize reagieren. Ein Prototyp ist fertig, Abegg hat ihn bereits erfolgreich getestet. Eine erste Version soll nächstes Jahr auf den Markt kommen und dann Augenärztinnen und Neurologen bei ihrer Arbeit helfen. «Viele neurologische Erkrankungen äussern sich in Sehstörungen», sagt Mathias Abegg und nennt als Beispiel die Multiple Sklerose, bei der dieser Anteil zwischen 25 und 50% liegt.
Aber auch ein grosser Anteil der Hirntumore hat direkte oder indirekte Auswirkungen auf das visuelle System und kann mit einer geeigneten Untersuchung erkannt werden. Eine solche neuroophthalmologische Untersuchung ist hochspezialisiert und aufwendig. «Die Untersuchung der Pupillen gilt hier als extremes Beispiel. Führt sie kein Spezialist durch, werden nur 12% korrekt erkannt», so Abegg. Er hat sich nach seinem Medizinstudium auf Hirnforschung und Neuroophthalmologie spezialisiert und zwölf Jahre lang an der Klinik für Augenheilkunde im Inselspital Bern gearbeitet, davon acht Jahre als Leitender Arzt der Orthoptik.
In seiner Forschungstätigkeit hat er immer wieder mit Eyetrackern gearbeitet, die allerdings aufgrund ihrer Unhandlichkeit für die medizinische Praxis nicht tauglich sind. Im Inselspital hat er festgestellt, «dass es ein klinisches Bedürfnis für ein diagnostisches Gerät gibt». Daraus sei langsam die Idee gereift, eine Firma zu gründen, um diese Lücke zu schliessen. Im Dezember 2021 war die erste Finanzierungsrunde gesichert, im vergangenen Jahr präsentierte die Firma ihre Idee bei verschiedenen Fachanlässen und potenziellen Investoren – und wurde mehrmals prämiert.
Die Diagnosebrille, die nun in Abeggs Start-up entwickelt wird, funktioniert wie folgt: Vor jedem Auge befinden sich jeweils ein Bildschirm und Kameras. Die Bildschirme zeigen eine virtuelle Landschaft, in der sich ein Papageienkopf bewegt. Die Patientin oder der Patient wird aufgefordert, diesem Papageienkopf mit den Augen zu folgen. Insgesamt werden acht neuroopthalmologische Tests innerhalb von zehn Minuten durchgeführt. So wird in einem Test jeweils ein Auge mit einer hellen Fläche geblendet, während das andere Auge dunkel bleibt. Kameras und Software registrieren die Reaktionen der Pupillen auf den Reiz. Gesunde Pupillen weiten sich bei Dunkelheit und ziehen sich bei viel Licht zusammen, eine andere Reaktion könnte bedeuten, dass bei der Signalverarbeitung im Gehirn etwas nicht stimmt. In anderen Tests wiederum wird gemessen, wie und mit welcher Geschwindigkeit sich die Augen horizontal und vertikal bewegen, wie gross das Gesichtsfeld ist, oder wohin ein Auge blickt und ob es schielt. Gerade Letzteres ist eine grosse Errungenschaft, denn: «Ein Grundproblem von Eyetrackern ist, dass sie davon ausgehen, dass die Leute nicht schielen. Dann kalibriert das Gerät falsch», so Abegg. «Wir haben eine extra angepasste Kalibrierung, damit das Gerät auch funktioniert, wenn die Augen nicht in die gleiche Richtung blicken.»
Ein Prototyp ist fertig. Läuft alles nach Plan, soll Anfang 2024 eine erste Version der Diagnosebrille auf den Markt kommen.
© machineMD, Fotos BOFF

Die Grenzen des Möglichen

Prof. Dr. med. Anja Palmowski, Fachärztin für Augenheilkunde und Augenchirurgie am Universitätsspital Basel sieht zwar Potenzial in der neuen Diagnosebrille, hat aber auch Fragezeichen. «Aus der Praxis weiss ich, dass die Patientinnen und Patienten bei solchen Untersuchungen sehr kooperativ sein müssen», sagt sie. Es sei deshalb fraglich, ob die Brille bei Kindern oder Menschen mit Behinderung gute Dienste leisten könnte.
Für Mathias Abegg ist klar: «Natürlich braucht es hier, wie bei anderen Untersuchungen auch, eine gewisse Kooperationsbereitschaft, aber unsere Brille gewährt eine sehr grosse Bewegungsfreiheit – das vereinfacht vieles», sagt er. «Wir wollen eine Lösung entwickeln, die auch für Kinder ab etwa sechs Jahren zuverlässig funktioniert.» Deshalb wäre das Gerät kaum geeignet, ein Mikroschielen zu diagnostizieren – obwohl es laut Abegg «prinzipiell möglich wäre.» Aber diese Untersuchung wird bei kleinen Kindern im Alter von etwa zwei Jahren gemacht.
Es gibt noch andere Grenzen: So muss mehr als die Hälfte der Pupille offen sein, damit die Aufzeichnung zuverlässig ist. Somit ist sie beispielsweise bei einer Okulomotoriusparese mit hängendem Oberlid nicht geeignet. «Aber das ist uns nicht wichtig», erklärt Abegg. Denn solche Fälle seien Spezialfälle. «Unser Zielpublikum sind nicht neuroophthalmologische Spezialistinnen, sondern niedergelassene Augenärztinnen und Neurologen.»
Anja Palmowski bleibt derweil zurückhaltend: «Ich bin sehr dafür, dass solche Geräte weiterentwickelt werden», sagt sie. «Aber 90% einer neuroophthalmologischen Untersuchung ist Anamnese. Die kann nicht ersetzt werden.» Das sieht auch Abegg grundsätzlich so: «Wir können die Anamnese nicht ersetzen, wohl aber die Untersuchungszeit massiv abkürzen.» Die bisherige Resonanz bei potenziellen Kundinnen und Kunden sei «sehr positiv». Zwar ist seine Firma nicht die einzige, die sich auf diesem Terrain bewegt, aber «es gibt kein Produkt, welches das Gleiche macht wie unsere Brille», so Abegg. Läuft alles nach Plan, soll Anfang 2024 eine erste Version der Diagnosebrille auf den Markt kommen. Natürlich hoffen Abegg und seine Mitstreiterinnen und -mitstreier bei MachineMD auf den kommerziellen Durchbruch. Der aber dürfte nur gelingen, wenn wirklich das eintrifft, was Abegg als eine Art Mission Statement formuliert: «Wir wollen Ärztinnen und Ärzte glücklich machen, indem wir ihnen zuverlässige, quantitative und reproduzierbare Diagnosedaten zur Verfügung stellen. Damit können wir dazu beizutragen, dass Hirnerkrankungen früher und genauer diagnostiziert werden können.»

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