Im Fadenkreuz der Mafia

Im Fadenkreuz der Mafia

Coverstory
Ausgabe
2023/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21644
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(17):12-15

Publiziert am 26.04.2023

Mexiko Wer Feinde der Mafia behandelt, ist quasi schon tot. Es sei denn, die Ärztinnen und Ärzte verstecken sich rechtzeitig. In Mexiko ist medizinisches Personal täglich den Angriffen krimineller Banden ausgesetzt. Die Mafia schreckt sogar vor Entführungen nicht zurück, wie unser Korrespondent berichtet.
Sofía Olivares hatte Glück. Sie war vorgewarnt. «Die Wache am Eingang hat angerufen, und so konnten wir uns verstecken», erinnert sich die Krankenschwester. Kurz nach dem Anruf kamen einige bewaffnete Männer auf ihre Station, erschossen einen Patienten und zogen wieder ab. Sie wollten «die Sache zu Ende bringen», wie man in Mexiko sagt. Jede Ärztin, jeder Sanitär und jeder Krankenpfleger weiss genau, was damit gemeint ist: Wenn die Killer der Mafia feststellen, dass jemand ihren Angriff auf der Strasse überlebt hat, gehen sie ins Spital, um ihn endgültig zu töten. «Das ist meine grösste Angst», erklärt Olivares.
Die Mexikanerin arbeitet in einer staatlichen Klinik in Ciudad Juarez. In der Metropole an der Grenze zu den USA kämpfen mehrere Banden der organisierten Kriminalität um die Vorherrschaft. Immer wieder kommt es zu schweren Schusswechseln, Angriffen auf Bars und Entführungen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft des dortigen Bundesstaats Chihuahua starben in der Hochburg des Drogenschmuggels vergangenes Jahr 1045 Menschen eines gewaltsamen Todes. «Hier werden täglich Menschen eingeliefert, die bei Schiessereien verwundet wurden», erklärt Jesús Sinfuentes, der ebenfalls in einem öffentlichen Spital in Ciudad Juarez tätig ist.

Gefährliche Angriffe gehören zum Alltag

Seine Klinik ist eine der wenigen in Mexiko, in der Personen behandelt werden, die nicht versichert sind und sich die teuren Privathospitale nicht leisten können. «Wenn es irgendeinen gewaltsamen Konflikt in der Stadt gibt, landen die Verwundeten immer hier», erklärt Sinfuentes. Entsprechend gross ist das Risiko für das Personal, selbst zum Opfer der Attacken zu werden. So musste der Krankenpfleger miterleben, wie Männer in die Klinik eindrangen, wild um sich schossen und einen Sanitäter sowie Wachpersonal töteten. «Das Einzige, was dir bleibt, ist dich irgendwie zu schützen.» Ciudad Juarez zählt zu den gefährlichsten Grossstädten Mexikos. Doch auch in zahlreichen anderen Regionen gehören solche Angriffe zum Alltag. Im zentral gelegenen Bundesstaat Guanajuato drang Anfang Februar ein Mann in ein Spital ein und ermordete ein Paar, zwei Monate vorher erschoss ein Unbekannter in der südlichen Stadt Puebla einen Patienten. Immer wieder fallen diesen Angriffen auch Medizinerinnen und Mediziner zum Opfer. So wurde vergangenen Sommer der Arzt Eric Andrade in der Stadt El Salto erschossen, vier Tage vorher war in Chihuahua die Anästhesistin Massiel Mexía ermordet worden. Aus Protest demonstrierten Kollegen. «Tote haben keine Sprechstunde», schrieben sie auf ihre Protestschilder.
Die Angriffe, denen die Ärztinnen, Sanitäter und Krankenschwestern ausgesetzt sind, reihen sich in andere Attacken krimineller Organisationen ein, bei denen Unbeteiligte zu Schaden kommen. Die gewalttätigen Verhältnisse durchdringen fast alle gesellschaftlichen Bereiche des Landes. Viele der 31 ​000 Menschen, die nach Angaben des Sicherheitsministeriums vergangenes Jahr ermordet wurden, hatten nichts mit dem Sinaloa-Kartell, der Familie von Michoacán, dem Jalisco-Kartell oder anderen kriminellen Organisationen zu tun. Auch viele der über 110 ​000 Menschen, die als verschwunden gelten, waren nie an Verbrechen beteiligt.

Einblicke ins Ausland

In einer losen Serie nehmen wir den ärztlichen Alltag in anderen Ländern in den Fokus.

Dem Terror kann sich niemand entziehen

Doch wo der «Narco», wie die Kartelle genannt werden, das Sagen hat, kommen Mediziner auch gezielt wegen ihrer Arbeit ins Visier der Mafia. Das betrifft besonders Regionen, in denen die Kriminellen das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben kontrollieren. Dort sind die Kartelle in den Drogenanbau involviert, erpressen Schutzgeld oder treiben «Steuern» für den Avocado-Anbau oder den Marktstand ein. Häufig kooperieren sie mit Polizisten, Militärs, Politikern und Beamten. Wer als Arzt eine Praxis betreibt oder als Sanitäterin in einem Gesundheitszentrum tätig ist, kann sich dem Terror nicht entziehen. Das medizinische Personal wird gezwungen, für die Mafia zu arbeiten. Sprich: deren Kranke und Verwundete zu behandeln.
So berichtet ein Arzt aus dem Bundesstaat Jalisco, wie er verschleppt worden sei, damit er sich um den Chef eines Drogenkartells kümmert, der eine Lungenentzündung hatte. Die Kriminellen hätten eine Liste, auf der die Ärzte der Gegend eingetragen seien, erklärt «Raul», der seinen echten Namen nicht nennen will. «Da es dort kaum Mediziner und Fachärzte gibt, wollen sie sichergehen, im Falle eines Falles zu dir kommen zu können.» Nach der Behandlung in einer luxuriösen Villa an einem geheimen Ort liessen ihn seine Entführer wieder gehen. Raul hatte Glück: Er konnte seinem unerwünschten Patienten helfen und wurde sogar bezahlt. Immer wieder sterben Ärzte, weil sie nicht mehr helfen konnten. «Ich habe überlebt, weil ich das Leben einiger Bandenchefs gerettet habe», erklärt ein anderer Mediziner, der ebenfalls anonym bleiben will. Er hatte Verwundete der «Zetas» versorgt, während das Kartell gegen eine rivalisierende Organisation kämpfte.
Die Risiken für das medizinische Personal haben gravierende Folgen auf die Krankenversorgung. Mexiko hat nach Angaben des Staatlichen Instituts für Statistik und Geografie (INEGI) über 305 000 Ärzte, jedes Jahr beenden zwischen 15 000 und 20 000 ihre Ausbildung. Das Land liegt damit im lateinamerikanischen Durchschnitt mit 2,4 Medizinern pro 1000 Einwohnern relativ weit oben. Zudem arbeiten 620 000 Menschen offiziell als Krankenpflegerinnen oder -pfleger. «Wir haben genug Mediziner, das Problem ist die Verteilung», sagt Andrés Castañeda vom «Kollektiv Mediziner in Ausbildung». Viele wollten nicht in den gefährlichen und von Armut geprägten ländlichen Gegenden arbeiten. Weder in den Spitälern noch in einer eigenen Arztpraxis.
Insgesamt gibt es in Mexiko laut Regierung knapp 22 000 Einrichtungen zur Krankenbehandlung. Doch in zahlreichen ländlichen Regionen sind die staatlichen Hospitäler stundenlange Autofahrten entfernt, kleine Gesundheitszentren übernehmen die Behandlung vor Ort. «Manche von ihnen sind gar nicht besetzt, in anderen arbeiten nur Ärzte in Ausbildung, die dort ihr Praktikum als soziales Jahr absolvieren», erklärt Castañeda. Im Gegensatz zu ihren erfahrenen Kollegen können die Studenten nicht frei über ihren Arbeitsplatz entscheiden. Sie werden zugeteilt und müssen für einen Lohn von 100 bis 150 Franken monatlich ihr Leben riskieren.

Sieben Leichen lagen neben dem Haus

Viele ausgebildete Mediziner gehen nicht in Landstriche, in denen die Mafia ganze Gemeinden kontrolliert. 2020 waren dem Gesundheitsministerium zufolge 14% der Einrichtungen nur mit Praktikanten besetzt, 1749 hatten gar keine Mediziner: keine Ärzte, keine Auszubildenden und keine Sanitäter. Das hat neben der ständig drohenden Gewalt auch damit zu tun, dass erfahrene Ärzte kaum besser bezahlt werden als ihre Kolleginnen und Kollegen in den Spitälern in den grossen Städten. «Sie müssen viel Geld und Zeit aufbringen, um ihre Familie zu besuchen und haben in den Dörfern praktisch kein Privatleben», beschreibt Castañeda.
Manche der Azubis ertragen dieses Leben nicht. «Immer wieder kommt es vor, dass sie flüchten und die Bevölkerung ohne jegliche Krankenversorgung zurücklassen», erklärt der Sprecher der «Mediziner in Ausbildung». Castañedas Organisation hat Praktikanten in einem Gesundheitszentrum im südwestlichen Bundesstaat Michoacán begleitet. Als eines Tages neben ihrem Haus sieben Leichen abgelegt worden seien, hätten sie das Weite gesucht. «Sie haben die Gewalt und die Korruption einfach nicht mehr ausgehalten», erklärt der Mediziner.
Michoacán zählt wie auch der anliegende Bundesstaat Guerrero zu den Regionen, in denen Gruppen des organisierten Verbrechens zahlreiche Gemeinden kontrollieren. Sie kassieren Schutzgeld von den Gewerbetreibenden, sind in den illegalen Bergbau verstrickt, verkaufen Drogen und fordern Steuern für jede verkaufte Flasche Coca-Cola. Wer nicht zahlt, ist seines Lebens nicht mehr sicher. Doch zugleich kümmern sich die Kartelle auch um die sozialen Anliegen der Bevölkerung. «Sie ersetzen die Regierung», erklärt der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia. «Wo die Behörden versagen und die Menschen im Stich lassen, übernimmt das organisierte Verbrechen soziale, politische und wirtschaftliche Aufgaben.»
Das Ziel sei es, von der Bevölkerung gegen staatliche Verfolgung geschützt zu werden und zugleich in den Dörfern junge Männer für kriminelle Geschäfte zu mobilisieren, so der Professor für Wirtschaft und Recht, der an der New Yorker Colombia-Universität lehrt. Buscaglia besucht immer wieder mexikanische Gemeinden, in denen die Narcos regieren. Oft würden die Kriminellen auch die Gesundheitsversorgung übernehmen, sagt er. «Sie besuchen die Dörfer, stellen Ärzte und Krankenpfleger zur Verfügung, führen Impfungen durch und leisten medizinische Basisdienste, etwa wenn jemand Fieber oder eine Entzündung hat.»
© Diana Villalobos

Mafia führte COVID-Impfungen durch

Während der Corona-Pandemie kursierten in den sozialen Netzwerken Videos, die zeigten, wie Mafiaorganisationen Hilfspakete mit Nahrungsmitteln verteilten, die die Insignien des jeweiligen Kartells trugen. Die Journalistin María Avilés aus Guerrero hat miterlebt, wie Mitglieder der «Ardillas»-Bande in einem Dorf COVID-Impfungen durchgeführt haben. «Der Impfstoff ist illegal dorthin gelangt, da kommt kein Polizist rein», sagt sie. Sie und ihre Kollegen schreiben in ihrer Heimat nicht darüber. Es handelt sich um «Zonen des Schweigens», an den Dorfeingängen kontrollieren Bewaffnete die Strassen. Manchmal betreiben die Kriminellen auch kleine Spitäler, die dazu dienten, Geld zu waschen, ergänzt Buscaglia und betont: «Unter den Bewohnerinnen und Bewohnern der Gemeinden existiert eine Art Hass-Liebe zu den Narcos.» Wer in diesen Gemeinden als Arzt oder Krankenschwester arbeitet, ist nicht nur aufgrund seiner Tätigkeit bedroht. Häufig erpressen die Kartelle Geld von Lehrern, Medizinern oder Händlern.
Buscaglia weist noch auf ein weiteres kriminelles Geschäft hin: «Das organisierte Verbrechen panscht und fälscht Medikamente», sagt er. Sowohl das Jalisco- als auch das Sinaloa-Kartell des mittlerweile inhaftierten Mafiabosses Joaquín «El Chapo» Guzmán stellen synthetische Drogen sowie Arzneimittel her. Ein Teil der Produkte geht in die USA, ein anderer bleibt im Land. «Apotheken in mehreren Städten Nordmexikos verkaufen gefälschte Medikamente, die Fentanyl und Amphetamin beinhalten», informierte im Februar der Think Tank «Insight Crime». Solche Tabletten können tödlich sein. Ende 2022 warnte die staatliche Gesundheitsbehörde Cofepris vor dem Kauf von sieben illegalen Arzneimitteln. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft verkauft das Jalisco-Kartell Medikamente, etwa gegen Bluthochdruck, Aids oder Diabetes, an kleine und mittlere Unternehmen. Wer das Angebot nicht annimmt, wird mit dem Leben bedroht. Auch auf den unzähligen mexikanischen Märkten wird die Piratenware feilgeboten. Hunderte von Tonnen solcher Medikamente haben die Behörden in den letzten Jahren beschlagnahmt.
Doch Mexikos Gesundheitspolitiker sorgen sich vor allem über die Krankenversorgung. Während in den abgelegenen Gegenden Allgemeinmediziner fehlen, herrscht in den gewalttätigen Metropolen vor allem ein Mangel an Spezialisten. Einer Untersuchung der Online-Plattform «Animal Político» zufolge gibt es in 45 der 50 Landkreise, in denen derzeit 40% der Morde stattfinden, viel zu wenig Fachärzte. Ganz vorne liegen Grossstädte wie Guadalajara, Tijuana und Ciudad Juarez. Alle diese Metropolen sind Zentren grosser Mafiaorganisationen.

Es besteht ein Fachärztemangel

Auch Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador zeigte sich im vergangenen Jahr besorgt darüber, dass wegen der gefährlichen Arbeit in den Spitälern ein Fachärztemangel bestehe. «Ich weiss, dass manche Regionen wegen der Unsicherheit keine Mediziner haben», ergänzte er und betonte, man werde das Problem angehen. Ende Februar versprach der Politiker nun, im Laufe des Jahres werde man selbst in den abgelegensten Gemeinden das Recht auf Gesundheit garantieren. «Es wird Ärzte, Spezialisten und Medikamente geben», erklärte López Obrador.
Das sei ein richtiger Ansatz, findet der Kriminalitätsexperte Buscaglia. «Das Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung durchzusetzen hilft zu verhindern, dass das organisierte Verbrechen noch weiter das Sozialleben in den Gemeinden übernimmt», sagt er. Auch Castañeda von den Medizinern in Ausbildung hofft, dass die Regierung mehr Arbeitsplätze für Ärzte finanziert. «Allerdings müssen dann auch Bedingungen geschaffen werden, damit das Personal bleibt», sagt er mit Blick auf die Überfälle, Erpressungen, Morde und die schlechte Bezahlung. Tatsächlich will López Obrador mehr Geld zur Verfügung stellen. Über die Bekämpfung der Gewalt hat die Regierung allerdings bei der Vorstellung ihres Vorhabens kein Wort verloren.