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Rechtlich unsichere Versorgung von Anabolika-Konsumierenden
a Dr. med., Vorstandsmitglied SSAM, Klink für Psychose und Abhängigkeit, PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG, Münsingen; b Prof. Dr. med. Arud Zentrum für Suchtmedizin, Zürich und Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich; c Dr. med., Vorstandsmitglied SSAM, Arud Zentrum für Suchtmedizin, Zürich
Stellungnahme SSAM Die Schweizer Anti-Dopinggesetze beeinträchtigen unbeabsichtigt die medizinische Versorgung von Menschen mit problematischem Anabolikakonsum ausserhalb des Wettkampfsports. Die SSAM setzt sich für eine Anpassung der Gesetzesgrundlage ein, um diese wachsende Risikogruppe mit Versorgungs-Angeboten zu erreichen und so eine erhebliche Belastung des Gesundheitswesens durch unbehandelte Folgeschäden zu verhindern.
Die Verwendung von Anabolika und anderer form- und leistungsfördernder Substanzen (sogenannte image and performance enhancing drugs IPEDs) stellt weltweit ein in der Prävalenz zunehmendes Phänomen dar. In der Schweiz konsumieren schätzungsweise über 200 000 Personen IPEDs. Diese Substanzen werden häufig verwendet, um einem bestimmten Körperbild zu entsprechen oder eigene sportliche Leistungsziele zu erreichen. Neben der körperlichen Wirkung werden diese Substanzen häufig auch aufgrund der mittelfristig positiven psychotropen Wirkung konsumiert; insbesondere zur Verbesserung des Antriebs und Affekts, des Selbstwertgefühls und zur Steigerung des sexuellen Empfindens. Der IPED-Gebrauch ist bei Menschen, die nicht wettkampfmässig Sport betreiben, deutlich häufiger als deren Einsatz als Dopingmittel im Wettkampfsport. IPEDs sind gefördert von sozialen Medien, Schönheits- und Leistungsidealen. Sie sind mittlerweile zum Massenphänomen im Breitensport geworden, wobei schon Jugendliche ebensolche Substanzen einnehmen, mit teilweise irreversiblen Folgen.
Anabolika können abhängig machen
Die Schweizer Anti-Dopinggesetze zielen auf sauberen Sport und das Recht auf ein dopingfreies sportliches Umfeld ab. Im Rahmen der Gesetzesentwicklung wurde die suchtmedizinische Perspektive aber übersehen. Im Bereich des Freizeitsports und anderweitiger Anwendungsbereiche hat dies Konsequenzen, die ethisch nicht beabsichtigt sein können. Bis zu 30% der Konsumentinnen und Konsumenten anaboler Substanzen ausserhalb des Wettkampfsports erfüllen Abhängigkeitskriterien und benötigen spezialärztliche Unterstützung, um sich aus den Konsummustern lösen zu können. Eine adäquate- und dringend benötigte medizinische Versorgung der zahlreichen Personen im Land, die im problematischem Ausmass Anabolika konsumieren, ist aktuell nur in einer rechtlich unklaren Situation möglich. Es braucht eine zeitnahe Anpassung der Gesetzesgrundlage, um eine erhebliche Belastung des Gesundheitswesens- und der individuellen Gesundheit durch unbehandelte Folgeschäden zu verhindern.
Anabolika haben ein immenses somatisches und psychisches Schadenspotential und die Konsequenzen des Konsums sind sehr komplex, weitreichend und nachhaltig. Konsumierende haben nicht selten grosse Schwierigkeiten, den Konsum einzustellen und einer von drei Anwendenden entwickelt eine körperliche und psychische Abhängigkeit. Die Anabolikaabhängigkeit erfüllt alle diagnostischen Kriterien einer Substanzgebrauchsstörung gemäss den internationalen Klassifikationen ICD-10 oder DSM-5, obgleich keine unmittelbaren psychotropen Effekte zu verzeichnen sind. Diese treten erst mittel- und längerfristig auf. Absetzversuche scheitern häufig an der Entwicklung von ausgeprägten psychischen- und somatischen Entzugserscheinungen oder am Auftreten von Absetzphänomenen. Ursachen oder prädisponierende Faktoren für einen problematischen Konsum oder die Entwicklung eines Abhängigkeitssyndroms können psychische Vulnerabilitäten oder Erkrankungen wie Traumafolgestörungen, Persönlichkeitsakzentuierungen oder eine körperdysmorphe Störung sein. Der komorbide problematische Konsum von psychoaktiven Substanzen ist in dieser Gruppe nicht selten. Eine entsprechende medizinisch-psychiatrische Versorgung ist daher dringend notwendig, sowohl zum Schutz der Betroffenen als auch aus Sicht der öffentlichen Gesundheit.


Versorgung in Rechtsunsicherheit
Die rechtlichen Vorgaben zur Dopingbekämpfung in der Schweiz (Sportförderungsgesetz [1] und insbesondere der Anhang 5 der FMH-Standesordnung [2] und dessen Interpretation [3]) sind so verfasst, dass sie die medizinische Versorgung von Menschen mit problematischem Anabolikakonsum mit einer Rechtsunsicherheit konfrontieren, auch wenn diese keinen Wettkampfsport betreiben. In Anbetracht der zunehmenden Zahl von Konsumentinnen und Konsumenten versagt die rechtliche Grundlage nicht nur dabei, den Konsum einzudämmen, sondern verhindert auch eine dringend notwendige medizinische Versorgung der betroffenen Personen.
Mit einer medizinischen Versorgung und der Schaffung der entsprechenden rechtlichen Grundlagen entsteht erst die Möglichkeit, eine therapeutische Beziehung zu diesen Personen aufzubauen, was die Basis für präventive-, schadensmindernde- und suchtmedizinische Behandlungsmassnahmen darstellt. Im Bereich des Konsums anderer illegaler Substanzen (Heroin, Kokain, etc.) hat sich diese suchtmedizinische Versorgung etabliert, ist wissenschaftlich breit abgestützt und nicht mehr wegzudenken. Hier bestehen keinerlei vergleichbaren rechtlichen Hürden. Studien haben gezeigt, dass ein ähnlicher, in der Suchtmedizin evidenter und bewährter Ansatz, aufbauend auf dem Einsatz von Motivational Interviewing, auch bei Konsumentinnen und Konsumenten von Anabolika und anderer IPED aus sekundärprophylaktischer und schadensmindernder Sicht angezeigt wäre.
Die aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen konterkarieren eine adäquate Behandlung dieser Freizeitsportlerinnen und Freizeitsportler und drängen die Konsumentinnen und Konsumenten in die Illegalität, was den Schwarzmarkt und die medizinisch ungenügende Peer-to-Peer-Beratung- und Behandlung weiter fördert. Auch wenn Anabolika keinen unmittelbar psychotropen Effekt haben, kann man sie in ihrer neurobiologischen Wirkweise- und gemessen an den psychosomatosozialen Folgen des chronischen Konsums, durchaus mit den uns bekannten psychoaktiven Substanzen mit Suchtpotential vergleichen. Die Suchtmedizin sollte sich daher Menschen mit problematischen Anabolikakonsum ausserhalb des Wettkampfsportes in gleicher Weise annehmen dürfen, wie es bei anderen Substanzgebrauchsstörungen fachlich empfohlen- und rechtlich möglich ist.
Die Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin SSAM fordert eine dringende Anpassung der Anti-Doping-Gesetze, insbesondere was Menschen betrifft, die keinen Wettkampfsport betreiben. Die aktuelle Gesetzeslage verhindert eine dringend notwendige präventive und suchtmedizinische Versorgung einer vergleichsweise grossen und wachsenden Bevölkerungsgruppe. Personen mit IPED-Gebrauchsstörung müssen gesetzlich, gesellschaftlich und medizinisch gleichbehandelt werden wie Menschen mit anderen Abhängigkeitserkrankungen.
Korrespondenzadresse
p.bruggmann[at]arud.ch
Literatur
1 Bundesgesetz über die Förderung von Sport und Bewegung vom 17. Juni 2011 (Stand am 23. Januar 2023): https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2012/460/de
2 Anhang 5 zur Standesordnung FMH: Richtlinien für die ärztliche Betreuung von Sporttreibenden vom 25. April 2002, Revision vom 25. Oktober 2018: https://www.fmh.ch/files/pdf24/anhang-5-standesordnung-fmh.pdf
3 Clénin G, Duruz J. Revision der berufsethischen Regeln zum Doping. Schweizerische Ärztezeitung, 2019;100(7):196–199.
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