Kommet her zu mir

Kommet her zu mir

Reportage
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21683
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):14-17

Publiziert am 05.04.2023

Spitalseelsorge Gefaltete Hände, gesenkter Blick – die Seelsorge ist mit so einigen Vorurteilen belastet. Dabei kann sie auch ganz anders. Die Seelsorgenden am Universitätsspital Zürich machen Schulungen, sind bei Krisengesprächen dabei und gestalten Rituale für die Mitarbeitenden. Und natürlich führen sie auch Patientengespräche. Wir haben sie begleitet.
Weisser Kittel, gelbe Turnschuhe – und am Kragen ein silbernes Kreuz. Er steht im Stationszimmer. Um ihn herum Pflegefachpersonen, die bei seinem Eintreten kaum aufgeblickt haben. In der Hand eine Liste. Gerade bereitet er sich auf die Patientenbesuche auf der Palliative-Care-Abteilung vor. Deshalb die Liste. Sie enthält nicht etwa Angaben zu Medikamenten oder zur Diagnose. Es ist der Belegungsplan mit Namen, Zimmernummern und Konfessionszugehörigkeit:
RKK für katholisch, EVRK für reformiert, ORTH für orthodox, BUD für buddhistisch, MUS für muslimisch, OB für ohne Bekenntnis, UEG für Übrige. Bernd Siemes ist nicht Arzt, er ist Leiter der katholischen Spitalseelsorge am Universitätsspital Zürich (USZ).
Heute wird er die Personen mit dem Vermerk RKK besuchen, aber auch bei denjenigen mit OB anklopfen und fragen, ob sie ein Gespräch wünschen. Schliesslich möchte er für alle da sein, die Gesprächsbedarf haben: «Ich sehe mich als Teil des Behandlungsteams und möchte dazu beitragen, dass der Aufenthalt für die Betroffenen gut verläuft.» Die Konfession spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Für einmal in der Kirche: Meistens sind Susanna Meyer Kunz, Leiterin der reformierten Spitalseelsorge, und Bernd Siemes, Leiter der katholischen Spitalseelsorge, nicht hier, sondern in den Abteilungen des Universitätsspitals Zürich anzutreffen.
© Nicolas Zonvi

Die weichen Faktoren wahrnehmen

Als der Spitalseelsorger in das Zimmer einer Palliative-Care-Patientin tritt, hat er das Lied «Engel» von Marius Müller-Westernhagen dabei. «Engel, lass die Zeit stillstehen, lehr mich zu verstehen, lehr mich dankbar sein», diese Zeile ist ihm nach dem letzten Gespräch mit der Patientin durch den Kopf gegangen. Er will die Liedstrophen mit ihr teilen, bevor sie das Spital verlässt und ins Hospiz zurückkehrt. Die Frau wirkt entspannt. Sie erzählt von ihren Kindern, vom Spitalaufenthalt, auch vom Leben im Hospiz. Und sie sagt, dass es immer wieder Menschen gebe, die wie Engel eine Stütze in ihrem Leben seien.
Engel – das klingt jetzt doch recht religiös. Geht es in allen Gesprächen um solche Themen? Ja und nein, meint Bernd Siemens: «Manchmal sprechen wir auch über ganz alltägliche Dinge. Aber oft schwingt eine spirituelle Dimension mit. Oder sie ergibt sich beim zweiten oder dritten Gespräch.» Spirituell heisst nicht religiös. Und auch nicht katholisch. Oder reformiert. Es bedeutet, die individuelle Spiritualität der Patientin oder des Patienten wahrzunehmen und miteinzubeziehen. Ins Gespräch. Und so in gewissem Sinne auch in die Behandlung. Das schafft einen Mehrwert für die Betroffenen und entlastet das Behandlungsteam.
Susanna Meyer Kunz, die Leiterin der reformierten Seelsorge am USZ, erklärt es so: «Wir Seelsorgende machen Human Care. Das heisst, wir nehmen die weichen Faktoren im Spital wahr, die im Stress manchmal untergehen. Zudem machen wir Spiritual Care für all jene, denen Spiritualität wichtig ist. Und Spezialisten sind wir in der Pastoral Care.» In der religiösen Begleitung also, dem Durchführen von konfessionellen Ritualen oder dem gemeinsamen Gebet. Doch diese Form der Begleitung mache in ihrer täglichen Arbeit einen immer kleineren Teil aus.
Auch Bernd Siemes hat in einem kleinen Etui die Hostie dabei. Für den Fall, dass jemand eine Kommunion wünscht. Und noch etwas anderes trägt er immer mit sich: aprikosengrosse Herzen und Kreuze aus Olivenholz. Ein solches Herz liegt im Zimmer einer Frau, die das Spital nach einem längeren Aufenthalt bald verlassen darf. Mit dem Seelsorger spricht sie über ihren Hund, den sie vermisst. Aber auch über ihren Kinderwunsch, für dessen Erfüllung der passende Partner gefehlt habe. Bernd Siemes zeigt neben ihr Bett und sagt: «Im Leben ist es manchmal wie mit diesem Herz. Es ist nicht perfekt. Es hat Kerben, ist uneben und verfärbt.» Doch trotzdem gebe es Gutes, auf das sie sich freuen dürfe. Etwa die Wanderungen, die sie zusammen mit ihrem Hund bald wieder machen könne.
Der Kontakt ist persönlich, wohlwollend und auf Augenhöhe. Alle Gespräche unterliegen dem Seelsorgegeheimnis. Manchmal dauern sie lange, manchmal kurz. Und manchmal steht eine Sprachbarriere dazwischen. Doch immer ist das Ziel der Seelsorgenden, dass ihre Anwesenheit den Menschen gut tut.

Von Mensch zu Mensch

Es sei der «Luxus» der Seelsorge, dass sie zeitlich nicht gebunden sei, sagt Bernd Siemes. Denn die 13 reformierten und katholischen Seelsorgenden bewegen sich als Dritte im Spitalumfeld. Das bedeutet, sie haben zwar ihre Büros am USZ, offiziell angestellt sind sie aber von ihrer jeweiligen Kirche. Niemand wirft ihnen vor, dass sie zu lange bei einer Person geblieben seien. Dass sie das Therapieziel schneller erreichen sollten. Oder dass sie eine Dienstleistung nicht abrechnen können. Wenn ihnen eine Person ihre ganze Lebensgeschichte erzählen möchte, dann können sie sich hinsetzen und sie bis zum Ende anhören. Eine wertvolle Ressource für das medizinische Personal im Spital.
Das findet auch Peter Steiger, stellvertretender Direktor des Instituts für Intensivmedizin und Leiter Intensivstation für Traumatologie und Intensivstation für Brandverletzte. Er ist seit 25 Jahren am USZ. Längst gehören die Seelsorgenden für ihn zum Behandlungsteam. Auf der Station für Brandverletzte nehmen sie an den wöchentlichen interdisziplinären Rapports teil. «Sie helfen uns, das Bild der Patienten und ihrer Angehörigen zu vervollständigen.» Weil sie zu ihnen hingehen, mit ihnen reden, ihnen zuhören. Doch Peter Steiger erlebt auch immer wieder, dass Leute zurückschrecken, wenn man von Seelsorge spricht. Dann müsse er «predigen» und ihnen erklären, dass es nicht um ein religiöses Gespräch mit dem Pfarrer gehe, sondern um ein Gespräch von Mensch zu Mensch.

Ein offenes Ohr für alle

«Bitte nicht stören» steht auf dem Blatt, das Susanna Meyer Kunz an das Sprechzimmer der Seelsorge hängt. Hier, direkt neben der Spitalkirche, wird über Mittag ein «heikles» Gespräch zwischen einer Ärztin und den Angehörigen einer Patientin stattfinden. Die Seelsorge stellt diesmal nur den Raum zur Verfügung. Andere Male führen die Seelsorgenden dort selbst Gespräche mit Angehörigen.
Die Spitalkirche liegt leicht abgeschirmt im Untergeschoss des Hauptgebäudes. Es ist ruhig. Gerade ist die Kirche leer. Dier Seelsorgerin nutzt den Moment, um die «Kerzenburg» neu aufzufüllen. Den einzigen Ort im Spital, an dem Kerzen angezündet werden dürfen. Direkt daneben liegen graue Kieselsteine in einer Kiste. Wer möchte, kann sich einen nehmen und ihn bemalen – ihn dann mitnehmen oder in der Kirche lassen. Die vielen bunten Steine zeigen, dass das Angebot ankommt. Jeden Sonntag findet in der Kirche ein Gottesdienst statt, abwechselnd reformiert, katholisch oder ökumenisch. Doch die Kirche wird auch noch für ganz anderes genutzt: «Wir haben Ärzte, die hier ihren Musikunterricht abhalten.» Weil sie keine Zeit haben, um für solche Aktivitäten aus dem Spital rauszukommen. Susanna Meyer Kunz freut die rege Nutzung.
Denn sie und ihr Team möchten auch für die Mitarbeitenden da sein. Sei es als Vermittelnde bei Krisengesprächen, als Expertinnen und Experten bei religiösen Fragen oder als Ansprechpersonen, wenn Mitarbeitende selbst in einer Krise stecken. Die Seelsorgenden suchen den Kontakt, sie gehen in die Abteilungen, betätigen sich in der Ethikkommission, der Ombudsstelle, dem Lenkungsausschuss Ethik. Und sie bieten Schulungen an. Etwa zum Thema «Trauer» oder «Sich abgrenzen». «Wichtig ist, dass wir uns ins Bewusstsein der Leute bringen», ist Susanna Meyer Kunz überzeugt. Sie zeigt die Weihnachtskarte, die die Seelsorge im vergangenen Winter verteilt hat. Darauf die Seelsorgenden lachend und mit roter Weihnachtsmannmütze. Niemand würde hier an den stereotypen Pfarrer mit schwarzer Kleidung und strengem Blick denken. Auch zu Ostern wird es eine Karte geben und dazu einen Zopfkranz mit Eiern.
In einigen Abteilungen ist der Kontakt bereits sehr gut. So etwa in der Gebärabteilung, wo die Hebammen sehr eng mit den beiden zuständigen Seelsorgerinnen zusammenarbeiten. Gerade bei der Trauerbegleitung nach Kindsverlust. In diesen Fällen bieten die Seelsorgenden neben Gesprächen auch Abschiedsrituale für die Eltern an. Und sie gehen auf die Mitarbeitenden zu und fragen, ob sie Gesprächsbedarf haben. Ein Angebot, das Anne-Catherine Metry, Hebamme und Gruppenleiterin, sehr schätzt: «Wir können sie immer beiziehen, wenn wir eine schwierige Situation erlebt haben.» Sie selbst hatte vor einiger Zeit einen Fall, bei dem ein Kind unerwartet direkt nach der Geburt verstorben war. Die Seelsorgerin kam danach zu ihr. Fragte, was passiert war. Das gibt im vollen Arbeitsalltag Gelegenheit, das Erlebte Revue passieren zu lassen und die Gedanken zu ordnen. Im Team arbeiten sie daran, dass das noch selbstverständlicher wird und niemand stigmatisiert wird, der diese Unterstützung in Anspruch nimmt.
Das individuelle Gespräch ist eine Art, wie die Seelsorgenden für die Mitarbeitenden da sein können. Eine andere sind Rituale. Auf der Palliative-Care-Abteilung etwa führen die Mitarbeitenden einmal im Jahr ein Feuerritual durch. Ein Anlass, bei dem sie die Dankes- und Grusskarten sowie die Todesanzeigen von ehemaligen Patientinnen und Patienten sammeln und in einem Lagerfeuer verbrennen. Ein letztes Abschiednehmen von den Menschen, die sie behandelt haben. Das hat eine reinigende Funktion. Und es ist eine Gelegenheit, die Seelsorge in einem anderen Kontext kennenzulernen. Denn Susanna Meyer Kunz leitet die Zeremonie. Ebenso wie die Gedenkfeiern für die Angehörigen der Verstorbenen und die Abdankungen für verstorbene Mitarbeitende.

Die Beziehung macht’s

Bernd Siemes steuert auf seiner Runde ein weiteres Zimmer für einen Besuch an. Die Türe ist zu, in der Nähe stehen drei Pflegende. Sie haben gerade Schichtwechsel. «Kann ich reingehen?», fragt er in ihre Richtung. Eine junge Pflegerin schaut kritisch. «Sie können schon rein. Aber er hat den psychologischen Dienst abgelehnt, ich glaube nicht, dass er mit Ihnen reden wird.» Bernd Siemes öffnet die Tür trotzdem. Und verschwindet für eine halbe Stunde dahinter. Sein Geheimnis? Er kennt den Patienten von früher. So etwas ist natürlich die Ausnahme. Aber es zeigt eine Sache: Seelsorge hat viel mit Beziehung zu tun. Und mit Beziehungsarbeit.
Wenn also Bernd Siemes heute so selbstverständlich in ein Stationszimmer laufen kann, dass niemand mehr aufblickt, wenn das Seelsorgeteam für ein Krisengespräch angefragt wird oder wenn Susanna Meyer Kunz an einem Rapport ihre Perspektive einbringt, dann steckt dahinter harte Arbeit. Die noch lange nicht zu Ende ist.

MAS in Spiritual Care

Die Medizinische Fakultät der Universität Basel bietet seit 2017 den interdisziplinären postgraduierten Masterstudiengang «Spiritual Care» an. Im MAS erweitern Fachpersonen aus Gesundheitsberufen ihre Kompetenz, spirituelle Bedürfnisse bei Patientinnen und Patienten, Pflegebedürftigen, Personen in Krisensituationen und deren Angehörigen wahrzunehmen und damit umzugehen. Er richtet sich an Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte in leitender Position, Berufstätige in der Krankenhausseelsorge, in Palliative Care, in der Gerontologie, in sozialer Arbeit und in der Krisenintervention sowie weitere Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Weitere Informationen:
spiritual-care.weiterbildung.unibas.ch

Berufsverband

Die reformierte und katholische Spitalseelsorge haben 2022 einen gemeinsamen Berufsverband gegründet. Wie kam es dazu?
Die Seelsorge in Spitälern, Kliniken und Institutionen der Langzeitpflege befindet sich zurzeit in einem Transformationsprozess hin zur spezialisierten Fachdisziplin im Gesundheitswesen. Auch zukünftig wollen wir allen Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung qualitativ hochstehende Seelsorge anbieten. Dafür braucht es einen Berufsverband, der einheitliche professionelle Qualitätsstandards definiert.
Der Verband ist ökumenisch aufgebaut. Geht das gut?
Das geht sehr gut. Katholische und reformierte Seelsorgende gehören zwar unterschiedlichen Kirchen an, haben aber in Spitälern und Kliniken die gleiche Aufgabe. Schon vor der Gründung haben die beiden konfessionellen Vereinigungen ökumenische Tagungen durchgeführt und die Vorstände haben sich in wichtigen Fragen abgestimmt. Insofern lag die Gründung eines ökumenischen Verbandes in der Luft.
Was ist für Sie das Ziel von Seelsorge?
Das Ziel der Spitalseelsorge sehe ich darin, Patientinnen und Patienten in ihren spirituellen Fragen und Anliegen zu begleiten und zu unterstützen. Ihnen bei der Suche nach dem zu helfen, was im Umgang mit der aktuellen Krankheitssituation tragend und inspirierend ist. Weiter ist es Ziel der Seelsorge, den Menschen in dem zu stärken, was ihn als Persönlichkeit ausmacht. Mit ihm nach den Werten zu fragen, an denen er sein Leben bisher ausgerichtet hat – und die vielleicht auch für anstehende Entscheidungen Orientierung geben können. All das sind letztlich spirituelle Fragen oder Anliegen.
Sind Sie bei Ihrer Arbeit mit Vorurteilen konfrontiert?
Seelsorge ist zum Teil mit bestimmten Vorstellungen behaftet, zum Beispiel dass wir kommen, um über den Glauben zu sprechen und zu beten. Und es gibt Vorbehalte, die in schwierigen früheren Erfahrungen mit Kirche begründet sind. Ausserdem haben viele Patientinnen und Patienten heute keinen Zugang mehr zu Religion und Glauben. Trotzdem sind sie durchaus spirituell interessiert und offen.
Wie können diese Vorbehalte abgebaut werden?
In Patientenkontakten können wir darlegen, wofür wir da sind: für die Patientin, den Patienten und das, was sie oder ihn zurzeit beschäftigt. Wichtig ist auch, dass die Mitarbeitenden den Auftrag und die Arbeitsweise der Seelsorge kennen; das heisst, dass wir aufzeigen, worin unsere Aufgabe besteht und welchen Beitrag wir zur Behandlung von Patientinnen und Patienten leisten können.
Heiko Rüter
Präsident des Berufsverbands Seelsorge im Gesundheitswesen, Seelsorger im Kantonsspital Baden