Koordination stärken statt Koordination überregulieren

Koordination stärken statt Koordination überregulieren

Aktuell
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21690
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):26-30

Affiliations
a Direktorin H+; b Präsidentin FMH; c Präsidentin medswiss.net; d Leiterin Abteilung DDQ, FMH; e Präsident mfe; f Senior Expert public affairs & politics pharmaSuisse; g Präsidentin pharmaSuisse; h Leiter Politik H+; i Persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin Präsidentin, FMH

Publiziert am 05.04.2023

Gesundheitspolitik Die Diskussionen zur Gesetzesvorlage «Netzwerke zur koordinierten Versorgung» zeigten verschiedene Argumente gegen den geplanten neuen Leistungserbringer auf. Es gibt jedoch auch viele alternative Lösungsansätze für eine Stärkung der koordinierten Versorgung, die weiterverfolgt werden sollten.
Mit dem zweiten Kostendämpfungspaket legte der Bundesrat am 7. September 2022 eine elfseitige Sammlung an Gesetzesänderungen vor. Eines der enthaltenen Vorhaben klang zunächst sehr gut: die «gezielte Förderung der koordinierten Versorgung» [1]. Die genaue Lektüre brachte jedoch Enttäuschung: Das Gesetz plant mit einem neuen, staatlich stark regulierten ambulanten Leistungserbringer ein neues Silo in unserem Gesundheitswesen. Dieser neue Leistungserbringer wird als «Netzwerk zur koordinierten Versorgung» bezeichnet, hat aber mit Netzwerken, wie wir sie in der Schweiz kennen, nichts zu tun. Er ist eine Parallelstruktur, welche keinen erkennbaren Mehrwert, aber viel neue Administration schafft [2].
Koordinierte Versorgung lässt sich mit vielen Ansätzen fördern. Der geplante neue Leistungserbringer gehört nicht dazu.
© Andrii Yalanskyi / Dreamstime

Erfolgsgeschichte ausbremsen?

Damit droht das Gesetz die Innovationen abzuwürgen, die in den letzten Jahrzehnten die Erfolgsgeschichte einer immer besser koordinierten Versorgung ermöglicht haben. Die Anfänge erster HMOs und Hausarztmodelle aus den frühen 90er Jahren haben sich zu einer grossen Auswahl alternativer Versicherungsmodelle (AVM) entwickelt, mit denen heute mehr als zwei Drittel der Bevölkerung durchschnittlich über 1000 Franken Jahresprämie sparen [3]. Ein Obsan-Bericht hielt fest, dass es «eindrücklich» sei, dass «trotz der ungenügenden Anreize […] bemerkenswert viele, unterschiedliche und auf alle Regionen verteilte Initiativen existieren» [4]. Zudem beschleunige sich die «Entwicklung der integrierten Versorgung in der Schweiz […] seit einigen Jahren stark»: Die Hälfte der 162 identifizierten Initiativen wurde in den sechs Jahren vor Publikation des Berichts lanciert.

Widerspruch der «Geförderten»

Die Akteure, die sich für eine koordinierte Versorgung engagieren und ihre Herausforderungen aus der Praxis kennen, realisierten schnell, dass der geplante neue Leistungserbringer keinen Fortschritt, sondern lediglich ein neues staatlich-administratives Korsett bringen würde, ohne die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern. Entsprechend zeigte das Hearing der nationalrätlichen Gesundheitskommission (SGK-N) im Oktober 2022 auch, dass «der vom Bundesrat vorgeschlagene Ansatz bei den betroffenen Akteuren auf starken Widerstand stösst» [5]. Die Kommission beauftragte die Verwaltung «an einem runden Tisch eine Lösung zu finden, die für das Gesundheitswesen einen Mehrwert bringt» und «bei den betroffenen Akteuren - Ärzteschaft sowie andere Gesundheitsfachpersonen, Versicherer, stationäre und ambulante Dienste, Patientenorganisationen und Kantone – mehrheitsfähig ist» [5]. In der Folge lud das BAG 15 Akteure zu drei runden Tischen im Januar, Februar und März 2023 ein: ARTISET, curafutura, fmc, FMH, GDK, H+, Konsumentenforum, medswiss.net, mfe, ospita, pharmasuisse, pro-salute, santésuisse, Spitex, SVBG.

Auftrag zum Runden Tisch

Der genaue Auftrag war, bei den runden Tischen «einen abgestimmten Vorschlag zuhanden der SGK-N zur Umsetzung der Massnahme ‘Netzwerke zur koordinierten Versorgung’ zu erarbeiten» [6]. Ein Zusatzbericht des BAG zuhanden der Kommission sollte Möglichkeiten der genaueren Ausgestaltung des geplanten neuen Leistungserbringers ausführen. Damit entstand eine schwierige Ausgangslage: Da die eingeladenen Akteure den neuen Leistungserbringer grossmehrheitlich ablehnten, hätten sie lieber unabhängig von dieser Gesetzesvorlage neue Lösungen für die Förderung der koordinierten Versorgung diskutiert. Das Kernanliegen aller Teilnehmenden, die Koordination in der Gesundheitsversorgung weiter voranzutreiben, konnte durch die Einengung der Diskussion auf den vom Bundesrat vorgeschlagenen neuen Leistungserbringer jedoch nur teilweise verfolgt werden.
Die behandelte Problemstellung, die Argumente gegen die aktuelle Gesetzesvorlage sowie die eingebrachten alternativen Lösungsideen werden hier in der Folge aus der Perspektive der Autorinnen und Autoren zusammengefasst.

Welches Problem soll gelöst werden?

Mit Blick auf die koordinierte Versorgung formulierte das BAG vor allem zwei Herausforderungen: Zum einen sind nicht alle Personen, die möglicherweise von einer koordinierten Versorgung profitieren könnten, in einem entsprechenden AVM versichert, etwa ältere Menschen oder chronisch Kranke. Zum anderen bieten auch AVMs nicht immer «echte» koordinierte Versorgung an. Der neue Leistungserbringer solle diese Situation verbessern, indem er koordinierte Versorgung praktiziere, wohlbemerkt unabhängig vom Versicherungsmodell eines Patienten. Durch die neue Regulierung sollen interprofessionelle Zusammenschlüsse ambulanter Leistungserbringer eine Versorgung «aus einer Hand» gewährleisten. Unter Aufnahme der breiten Skepsis der Akteure im Gesundheitswesen formulieren wir verschiedene Argumente gegen das neue Konstrukt, die in neun Punkten zusammengefasst werden.

Was spricht gegen den neuen Leistungserbringer?

Ein neuer Leistungserbringer ist noch kein Versorgungsmodell: Die Gesetzesvorlage setzt den neuen Leistungserbringer mit einem Versorgungsmodell gleich – präsentiert aber lediglich eine neue Einrichtung, welche nach Vorgaben des Bundesrats zu Organisation, Personal, Zusammenarbeit, Datenaustausch, Qualitätssicherung und Koordination aufgebaut werden sowie kantonale Leistungsaufträge erhalten soll, wie wir das für Spitäler kennen. Ob dieser am Schreibtisch entworfene neue Leistungserbringer in der Praxis den Anspruch eines «Versorgungsmodells» überhaupt einlösen könnte, ist spekulativ. Es bleibt auch unklar, warum er erfolgreicher in der Koordination sein sollte als die bereits bestehenden Netzwerke. Alle in der Botschaft aufgeführten «Vorteile» des neuen Leistungserbringers sind mit dem vorgeschlagenen Modell gar nicht realisierbar, unbelegt oder bereits heute Realität.
Koordinierte Behandlungen funktionieren nur, wenn Patientinnen und Patienten diese Koordination auch wünschen: Die Gesetzesvorlage verkennt, dass eine gut koordinierte Behandlung in einem Netzwerk eine bewusste Entscheidung des Patienten voraussetzt – also Freiwilligkeit. Darauf gründet auch der Erfolg der heutigen Netzwerkmodelle. Wer von einem Lotsen in der Gesundheitsversorgung profitieren möchte, muss sich auch lotsen lassen – und dafür zum Beispiel Einschränkungen in seiner Wahl der Leistungserbringer akzeptieren. Der geplante neue Leistungserbringer könnte sein Versprechen einer koordinierten Behandlung darum gar nicht einlösen: Jeder zum Beispiel im Standard- oder in einem telemedizinischen Modell versicherte Patient könnte beliebig zusätzlich Leistungserbringer ausserhalb des Netzwerks aufsuchen. Die Vorstellung das Versorgungsmodell vom Versicherungsmodell zu trennen und damit auch Personen, «die nicht eine besondere Versicherungsform gewählt» [1] haben, in Netzwerken zu versorgen, ist darum nicht realistisch. Bereits heute hat jeder Versicherte jedes Jahr von Neuem die Möglichkeit, ein Versicherungsmodell mit verbindlicher Zusammenarbeit der Leistungserbringer in einem Netzwerk zu wählen. Wenn Patienten diese Koordination nicht wünschen, wird man dies nicht mit einer zusätzlichen Versorgungsstruktur, wie sie der Bundesrat vorschlägt, ändern können, die die Versorgungslandschaft weiter fragmentiert.
Wer sich heute trotz deutlicher Kostenvorteile gegen AVMs mit Netzwerkversorgung entscheidet, würde zukünftig auch einen neuen Leistungserbringer meiden: In einen neuen Leistungserbringer müsste sich der Patient genauso hineinbegeben, wie heute in ein Netzwerk-Modell – und er könnte ihn genauso meiden. Eine Förderung der koordinierten Versorgung sollte darum bei den Gründen ansetzen, warum Versicherte kein Netzwerk-Modell wählen, statt eine Parallelstruktur zu schaffen. Diese Gründe können sehr unterschiedlich sein. Bei Menschen, die sich bewusst gegen Netzwerkmodelle entscheiden oder nie darüber nachgedacht haben, wäre vor allem Information sinnvoll. Bei anderen – insbesondere auch multimorbiden – Personen ohne AVM stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein Nachteil ist, wenn diese heute nicht in AVMs versichert sind: Viele werden bereits heute von ihrem Hausarzt koordiniert behandelt. Andere chronisch Kranke sind über ihre Erkrankung(en) bestens informiert und haben ihr individuelles Behandlungsnetz längst etabliert. In beiden Fällen hätte ein Wechsel in ein Netzwerk-Modell kaum Auswirkungen auf die Qualität und Kosten ihrer Versorgung.

Position des SVBG

Als Schweizerischer Dachverband der Berufsorganisationen im Gesundheitswesen (SVBG) begrüssen wir die Absicht, die koordinierte Versorgung in der Grundversorgung zu fördern. Die Gesundheitsberufe wollen ihre Leistungen für eine bestmögliche Versorgung koordinieren – in jenen Situationen, in denen es notwendig und zweckmässig ist. Das betrifft bei weitem nicht nur die vielzitierten multimorbiden älteren Personen, sondern genauso Kinder oder Jugendliche und Menschen mit psychischen Problemen. Allerdings werden die Hindernisse, welche die Koordination aus Sicht der einzelnen Fachpersonen behindern, mit dem neuen Leistungserbringer nicht abgebaut und den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen wird damit wenig Rechnung getragen. Anstatt die für die Koordination notwendigen Leistungen zu definieren und zu entschädigen soll ein neuer Leistungserbringer geschaffen werden – eine Entschädigung der Koordinationsleistungen ist dann jedoch diesem Leistungserbringer und den von ihm behandelten Personen vorbehalten.
Statt behördlich regulierte Netzwerke als neue Leistungserbringer zu etablieren, wäre es sinnvoller die gewünschten Koordinationsleistungen zu fördern. Hierfür wären zwei Ansätze zentral: Zum einen müssten Digitalisierungsgewinne realisiert werden, indem der Informationsaustausch z.B. mit Hilfe eines funktionierenden EPD unterstützt würde. Zum anderen müssten Koordinationsleistungen vergütet werden. Eine entsprechende gesetzliche Grundlage könnte zielführende Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern befördern. Und last but not least sollte der Patient selber wählen können, wer für ihn Koordinationsleistungen übernimmt. Es bleibt damit festzuhalten, dass der aktuelle Gesetzesentwurf an den Problemen der Realität vorbeigeht, statt echte neue Lösungsansätzen vorzuschlagen.
Claudia Galli Hudec, Präsidentin svbg
Die freie Entscheidung der Versicherten ist zu respektieren: Mit einer Trennung des Versorgungsmodells vom Versicherungsmodell überginge man auch die Entscheidung der Versicherten. Diese wählen mit ihrem Versicherungsmodell heute auch ein Versorgungsmodell. Wer das teure Standardmodell wählt, kann beliebig Leistungserbringer aufsuchen – kann dann aber keine Netzwerkkoordination erwarten. Das Ziel, Menschen, die sich gegen Netzwerkmodelle entschieden haben, eine HMO «unterzuschieben», ist auch fragwürdig, weil die Versicherten so auch der grossen Prämienreduktionen beraubt würden, die normalerweise mit der Wahl eines Netzwerk-Modells verbunden sind. Das Versicherungsmodell vom Versorgungsmodell zu trennen, hiesse auch die wirtschaftlichen Anreize – und damit den zentralen Treiber von integrierter Versorgung und Kostendämpfung – von der Versorgungsebene zu lösen.
Die Wahlfreiheit der Versicherten würde eingeschränkt: Wo heute der Versicherte entscheidet, nach welchem Modell er behandelt werden möchte und dafür auch die Kosten trägt, würde ihm zukünftig die Entscheidung durch die Anbindung seines Hausarztes abgenommen. Angesichts des Grundversorgermangels würden viele Versicherte entweder in den neuen Leistungserbringer gezwungen, weil sich der einzige verfügbare Hausarzt diesem angeschlossen hat oder der neue Leistungserbringer wäre für sie gar nicht verfügbar. Statt eine Parallelstruktur aufzugleisen, die für die Versicherten oft entweder alternativlos oder nicht verfügbar wäre, sollten darum besser die Anreize für Koordination und Ausweitung des interprofessionellen Angebots in den bereits bestehenden Strukturen verbessert werden. So liesse sich auch konsequent vom Patienten und seinen spezifischen Netzwerk-Bedürfnissen her denken, statt von einer Struktur her, die allen gleichermassen übergestülpt wird.

Koordinierte Versorgung dank Wahlfreiheit

Auch wenn das KVG in den letzten 10 Jahren mit manchen Revisionen schlechter geworden ist, sind die soliden Grundpfeiler Wahlfreiheit für die Versicherten sowie Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit für die versicherten Leistungen immer noch erkennbar. Dank der Wahlfreiheit können sich die Versicherten für die Standardgrundversicherung oder für ein alternatives Versicherungsmodell (AVM) entscheiden. Wer die Standardgrundversicherung wählt, will sämtliche zugelassenen Leistungserbringer selber auswählen und ist folglich auch für die Koordination selber verantwortlich. Wer ein AVM wählt, schränkt die Wahlfreiheit freiwillig ein und bekommt dafür einen Prämienrabatt, weil die Untersuchungen und Behandlungen je nach AVM unterschiedlich koordiniert werden. Mit den AVM beweisen Leistungserbringer, Versicherer und Versicherte, wie ein kleiner Freiraum im überregulierten KVG auf der Basis von Vertragsfreiheit blüht.
Nun will der Bundesrat einen zusätzlichen Leistungserbringer, der koordiniert. Die Kritik in der Vernehmlassung und an einem Hearing der nationalrätlichen Gesundheitskommission war vernichtend. Die Kommission beauftragte deshalb das BAG, zusammen mit den Akteuren Vorschläge zu erarbeiten. Anstatt an den drei runden Tischen ergebnisoffen nach Lösungen zu suchen, versteifte sich das BAG allzu sehr auf die Verteidigung des bundesrätlichen Vorschlags, ohne die Mehrheit der Akteure von den Vorteilen eines zusätzlichen Leistungserbringers für die Versicherten und Patient:innen überzeugen zu können. Nun muss das Parlament entscheiden, ob die koordinierte Versorgung reguliert und standardisiert wird, oder ob die AVM mit zusätzlichen Anreizen (Mehrjahresverträge für Versicherte; mehr Flexibilität beim Einsatz, bei der Zusammenarbeit der Leistungserbringer, bei den Leistungen, bei der Vergütung und bei der Prämienberechnung) auch für ältere und chronisch kranke Versicherte attraktiver werden sollen.
Felix Schneuwly, Fachbeirat Gesundheit Konsumentenforum kf
Hoher Koordinationsaufwand darf nicht nur für Patienten des neuen Leistungserbringers vergütet werden: Der neue Leistungserbringer soll mit den Versicherern die «Finanzierung der Zusatzkosten, die durch die Koordination komplexer Fälle entstehen» [7], vereinbaren. Abgesehen davon, dass die Unterteilung in komplexe und weniger komplexe Fälle Abgrenzungsfragen aufwirft, stellt sich hier eine sehr grundlegende Frage: Warum sollten diese Zusatzkosten ausschliesslich dem neuen Leistungserbringer vergütet werden? Statt wie hier geplant einen spezifischen Leistungserbringer zu fördern, sollte das Erbringen der Leistung am Patienten gefördert werden – unabhängig davon, ob dieser ein staatlich vorstrukturiertes Setting aufsucht oder nicht. Für Patienten und Patientinnen, die umfangreiche Koordinationsleistungen benötigen, müssen diese auch ausserhalb des neuen Leistungserbringers finanziert werden – auch hier gilt es vom Patienten aus zu denken statt von der Struktur.
Überregulierung beschränkt die integrierte Versorgung: Die mit dem neuen Leistungserbringer verbundenen neuen administrativen Auflagen bringen keinen Mehrwert, aber viele zusätzliche Beschränkungen. Die heute individuellen Verträge der Netzwerke funktionieren sehr gut und ermöglichen Vereinbarungen, die für alle stimmen. Auch zusätzliche kantonale Leistungsaufträge würden die koordinierte und überregionale Versorgung einschränken. Das Ziel, mit gesetzlichen Vorgaben «eine einheitliche Gestaltung der in Zukunft entstehenden Netzwerke zu gewährleisten» [1], untergräbt die Erfolgsgeschichte der AVM: Gerade die Flexibilität der Netzwerke ermöglichte bislang die Anpassung an unterschiedliche Bedürfnisse verschiedener Regionen oder Patientengruppen, bot den Versicherten eine Auswahl und förderte Weiterentwicklung durch Konkurrenz. Der neue Leistungserbringer würde mit mehr Auflagen und Bürokratie die koordinierte Versorgung nicht fördern – sondern ersticken.
Das KVG ist ein Finanzierungsgesetz und sollte nicht die Organisation der Patientenversorgung vorgeben: Das KVG regelt als Finanzierungsgesetz, wer medizinische Leistungen zulasten der OKP nach welchem Schema und unter welchen Bedingungen (WZW) abrechnen darf. Die Ausgestaltung von Versorgungsmodellen ist jedoch keine Aufgabe des KVG, sondern in erster Linie eine unternehmerische Leistung von Leistungserbringern, die mit günstigen Rahmenbedingungen gefördert werden sollte. Die Berufsausübung wird in den – sehr unterschiedlichen – kantonalen Gesundheitsgesetzen reguliert. In diesem gesetzlichen Rahmen sind bereits heute sowohl kantonsspezifische als auch kantonsübergreifende integrative Versorgungsprojekte möglich.
Für eine verbindliche interprofessionelle Zusammenarbeit braucht es keinen neuen Leistungserbringer: Es braucht keinen neuen Leistungserbringer, «damit sich Gesundheitsfachpersonen zu einem interprofessionellen und interdisziplinären Betreuungsteam zusammenschliessen» [7], wie die vielen bestehenden Netzwerke zeigen. Diese Entwicklung ist auch nicht, wie vom BAG kritisiert, ausschliesslich «ärztegetrieben». Dies zeigt unter anderem das Beispiel der Medbase-Gründung durch einen Physiotherapeuten. Auch die wachsende Bedeutung von MPK, Pflegefachpersonen, APN oder Sozialarbeitenden in Netzwerken verdeutlicht die zunehmend interprofessionelle Zusammenarbeit, die auch bereits heute in Verträgen mit den Versicherern verbindlich festgelegt wird. Potenzial besteht noch in einer engeren Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren, wie Apotheker und Spitex. Erschwert wird die Verbesserung der koordinierten Patientenversorgung jedoch vor allem durch das Fehlen einer Plattform für den digitalen Austausch zwischen Gesundheitsdienstleistern, durch die fehlenden Anreize und die unzureichende Tarifierung von Koordinationsleistungen – dass ambulante Leistungserbringer nicht gemeinsam abrechnen können, war hingegen bislang kein Problem. Diese rein administrative Verrechnungsfrage wäre zudem viel einfacher lösbar – und bräuchte keine Schaffung eines neuen, staatlich stark regulierten Leistungserbringers.

Wie kann man die Koordination tatsächlich fördern?

Selbst diejenigen Akteure, die die Kritik am neuen Leistungserbringer nicht oder nur teilweise teilen, sehen oft Möglichkeiten, die interprofessionelle Koordination in der Gesundheitsversorgung auch ohne diesen Leistungserbringer zu fördern beziehungsweise zu verbessern. Viele Lösungsansätze betreffen die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der heutigen AVM und der Koordination in der Gesundheitsversorgung, hier müssen noch Fehlanreize beseitigt werden. Ein anderer zentraler Fehlanreiz, der früher schlechte Risikoausgleich, wurde bereits korrigiert und lässt nun eine neue positive Dynamik erwarten. Auch Weiterentwicklungen auf der Versorgungsseite sind denkbar. Hier werden neue Kompetenzen der Pflegeberufe und Apothekerinnen und Apotheker jedoch auch ohne neuen Leistungserbringer einen Beitrag zu einer koordinierten Grundversorgung leisten. Die Ansatzpunkte werden nachfolgend in neun Punkten zusammengefasst:
Mit dem neuen Risikoausgleich werden AVM für chronisch Kranke immer attraktiver: Die Einführung des morbiditätsorientierten Risikoausgleichs im Jahr 2020 beseitigte bereits einen wichtigen Fehlanreiz. Da zuvor die Jagd nach guten Risiken belohnt wurde, während sich Investitionen nicht lohnten, wurde das Potenzial von AVMs für chronisch Kranke nicht ausgeschöpft. Mit der Verbesserung des Risikoausgleichs haben sich die Anreize 2020 für die Versicherer jedoch grundlegend geändert. Dies lässt eine sehr positive zukünftige Entwicklung erwarten: Die mit dem neuen Leistungserbringer angestrebten Ziele könnten bereits allein durch den neuen morbiditätsbasierten Risikoausgleich erreicht werden.
Die Einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen EFAS wird einen Schub bei der integrierten Versorgung auslösen: Mit dem Fortschritt bei EFAS ist die Politik kurz davor, ein weiteres Hindernis integrierter Versorgungsmodelle zu beseitigen. Insbesondere bei häufigen chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Herzleiden und Atemwegserkrankungen können diese Modelle durch Investitionen in eine umfassende ambulante Betreuung teure Spitalaufenthalte vermeiden. Doch diese Modelle sind heute für Versicherer unattraktiv, weil diese die Mehrkosten im ambulanten Bereich tragen müssen, während die eingesparten Spitalkosten jedoch vor allem die Kantone entlasten. Mit EFAS müsste nicht mehr der Versicherer investieren, damit der Kanton spart, sondern beide wären gleichermassen an Investition und Kostenvorteil beteiligt. Damit würden auch die Prämienrabatte für die Versicherten steigen. Die Rabatte für HMO-Modelle, die der neue Leistungserbringer nachahmen soll, lägen mit EFAS um 20% höher. Diese Versicherungsform würde also deutlich attraktiver [8] genauso wie die Weiterentwicklung von Versorgungsmodellen für spezifische Krankheitsgruppen.
Koordinationsleistungen müssen finanziert werden – für alle Patienten: Ein weiterer Schlüssel zur Verbesserung der Koordination im Gesundheitswesen liegt in einer sachgerechten Tarifierung von Koordinationsleistungen. Heute findet Koordination insbesondere deshalb zu wenig statt, weil sie – je nach Gesundheitsberuf und Situation – immer oder teilweise gratis erfolgen muss. Eine Vergütung der für die Koordination aufgewendeten Zeit käme zudem allen Patienten mit entsprechendem Bedarf unabhängig vom Versicherungsmodell zugute. Ein Anspruch auf die Vergütung von Koordinationsleistungen wäre auch einfach und schnell umsetzbar – im Gegensatz zur Etablierung eines neuen Leistungserbringers. Mit dem TARDOC liegt bereits ein Tarif vor, der auch die Vergütung von interprofessionellen und Koordinationsleistungen vorsieht. Dies wird selbstverständlich auch mit dem geplanten, aus TARDOC und ambulanten Pauschalen zusammengesetzten Tarifsystem möglich sein. In anderen Tarifen müssten Koordinationsleistungen ergänzt werden, und auch im Beitragssystem der Pflegeversorgung sowie in der LOA der Apotheker muss die Bezahlung solcher Leistungen sichergestellt werden. Für darüber noch hinaus gehende Leistungen von Netzwerken, die mehr Qualität und Einsparungen bringen, sollten die Netzwerke weiterhin frei mit Versicherern Sondervergütungen aushandeln können – ohne unnötige Auflagen des Bundesrats. So würden Vernetzungsleistungen mit Mehrwert für Patienten und Versicherte gefördert – statt zusätzliche Regulierungen auf Ebene der Organisationsstruktur aufgebürdet werden.
Listenmodelle müssen verhindert und damit Etikettenschwindel vermieden werden: Wenn heute nicht alle AVM tatsächlich koordinierte Netzwerkarbeit anbieten, wird dieses Problem nicht durch einen neuen Leistungserbringer gelöst. Stattdessen gilt es Etikettenschwindel zu vermeiden: Wo AVM draufsteht, muss auch AVM drin sein, also ein Netzwerk von Leistungserbringern, das mit den Versicherern verbindliche Verträge abgeschlossen hat. Nur diese können eine kontinuierliche koordinierte Betreuung kranker Menschen leisten. Sogenannte Trittbrettfahrer- beziehungsweise Listenmodelle können dies nicht. Ärzte und andere betroffene Leistungserbringer müssen sich darum von diesen unseriösen Listen streichen lassen können, die den Patienten ein Hausarzt- oder koordiniertes Modell nur vorgaukeln. Das wäre mit einer minimalen KVG-Revision in Artikel 41 Absatz 4 möglich.
Eine freiere Prämien- und Vertragsgestaltung könnte der integrierten Versorgung einen Innovationsschub ermöglichen: Die Gestaltung der Prämien und Rabattierungen muss zukunftsfähig angepasst werden, schon allein, weil das Preiskollektiv im Standardmodell immer kleiner wird. Mit einer Anpassung von Artikel 101c KVV könnten die Versicherungen ihre Prämien frei und ohne Maximalrabatte festlegen – sofern diese der realisierten Einsparung entsprechen - und so einen Innovationsschub in den AVMs auslösen. Diese würden durch die vergrösserte Prämiendifferenz oder durch den Verzicht auf Kostenbeteiligung immer attraktiver. Auch eine neue Möglichkeit in der Grundversicherung, Mehrjahresverträge abzuschliessen, könnte sich sowohl auf Qualität als auch auf die Kosten positiv auswirken, weil damit neue Anreize für Präventionsleistungen gesetzt würden.
Für Versorgungsprobleme in spezifischen Situationen müssen Bottom-up Lösungen entwickelt werden: Spezifische Situationen aus dem Alltag der Patientenversorgung weisen einen besonders dringenden Handlungsbedarf auf, für die ebenfalls Lösungsansätze formuliert wurden. So liessen sich im Bereich der Pflege und insbesondere der Spitex mit entsprechender Vergütung und Kompetenz Koordinationsleistungen erbringen, die bei alten und multimorbiden Menschen Spital- oder Heimeinweisungen reduzieren könnten. Auch im wachsenden Bereich der Langzeitpflege könnte eine zentrale Rolle der Pflegenden, kombiniert mit der von Apothekerinnen und Apothekern gestützten Betreuung der Medikation, ein grosses Verbesserungspotenzial bei multimorbiden kostenintensiven Patienten realisieren. Die Ergebnisse des jüngst publizierten NFP 74 sprechen dafür «innovative Ansätze in einem Bottom-up-Prozess zu verwirklichen», der verbindliche Lösungen für eine gute Zusammenarbeit auf Augenhöhe bringt. Das NFP 74 fordert von den Systemgestaltern «geeignete finanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen, um innovative Versorgungsmodelle zu erproben und bei Eignung zu multiplizieren» [9]. Ein Aufsetzen auf den erfolgreichen Projekten des NFP 74 zur Koordination mit zentraler Rolle von Pflegenden könnte hier zeitnah praxistaugliche Lösungen bringen. Auch die im Kostendämpfungspaket 2 vorgesehenen neuen OKP-Leistungen der Apotheker (zum Beispiel im Rahmen von Präventionsprogrammen oder von pharmazeutischen Beratungsleistungen) haben in Pilotstudien oder im Ausland bereits Qualitäts- und Kostenvorteile gezeigt und sind grundsätzlich im Rahmen interprofessioneller Zusammenarbeit zu erbringen.
AVM müssen als Qualitätsprodukte positioniert und besser kommuniziert werden: Neben dem schlechten Risikoausgleich waren AVMs auch deshalb für chronisch Kranke lange nicht attraktiv, weil sie in erster Linie als «Sparmodelle» beworben wurden. Kranke Menschen wünschen sich aber keine Discount-Versicherung, sondern ein Qualitätsprodukt. Die bereits einsetzende Änderung der Kommunikation könnte zusätzlich unterstützt werden, wenn Personen, die von einem bestimmten Modell profitieren könnten, gezielt mit Informationen angesprochen werden dürften: Mit einer verbesserten Kommunikation wird das Bewusstsein wachsen, dass Netzwerkmodelle neben Preisvorteilen insbesondere für chronisch kranke Menschen auch mehr Qualität bieten können. Die hochprofessionellen Qualitätsaktivitäten der Netzwerkmodelle gehören neben den wirtschaftlichen Anreizen zu ihren wichtigsten Erfolgsfaktoren. Dies muss stärker hervorgehoben werden. Der neue Leistungserbringer, der keinerlei Qualitätsanforderungen erfüllen muss, würde hingegen als reine Kostendämpfungsmassnahme keine zukunftsweisende Entwicklung der Versorgung fördern.
Interprofessionelle Qualitäts-Charta: Statt mit einem neuen Leistungserbringer ein neues Silo zu schaffen, könnte ein qualitätsorientierter Ansatz die heutigen Silos nachhaltig öffnen. So könnte im Rahmen eines freiwilligen Bottom-up Committments eine verbindliche Charta mit Qualitätszielen erarbeitet werden, die allen Gesundheitsberufen als Grundlage für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe dient. Ein Anschluss an diese interprofessionelle Qualitätscharta könnte mit Anreizen für alle Beteiligten verbunden werden, um Win-win-Lösungen für Patienten, Leistungserbringer und Versicherer zu schaffen.
Spitäler als Koordinatoren der Versorgung: Last but not least muss die Koordination über alle Akteure der Versorgungskette hinweg gefördert und weiterentwickelt werden und damit neben ambulanten Netzwerken auch Spitäler und Kliniken einbeziehen. Spitäler decken Fachrichtungen der akutsomatischen, psychiatrischen und rehabilitativen Medizin ab, wobei in all diesen Bereichen palliativmedizinische Angebote hinzukommen. Erfahren im Betreiben grösserer Netzwerke können sie koordinierende Aufgaben über das gesamte Versorgungsspektrum hinweg übernehmen. Ein schönes Bespiel dafür liefert das jüngst geschaffene Réseau de l’Arc [10].

Fazit: Koordination stärken statt Koordination regulieren

Das Verdienst des im zweiten Kostendämpfungspaket geplanten neuen Leistungserbringers ist, dass er dem wichtigen Thema der koordinierten Versorgung neue Aufmerksamkeit verschafft hat. Die aktuelle Debatte zeigt jedoch, dass dieses administrative Konstrukt die grosse Mehrheit der Akteure des Gesundheitswesens nicht überzeugen kann, weil es die Koordination nicht fördern würde, sondern im Gegenteil erfolgreiche Entwicklungen behindern und den Verwaltungsaufwand erhöhen würde.
Es liegen nun nicht nur Argumente gegen den neuen Leistungserbringer vor, sondern auch Lösungsansätze, wie die Koordination in der Gesundheitsversorgung tatsächlich gestärkt werden kann. Viele dieser Ansätze weisen eine sehr gute Kosten-Nutzen-Bilanz auf, erfordern sie doch oftmals nur punktuelle Anpassungen und lassen trotzdem grosse Wirkungen erwarten. Nun bleibt zu hoffen, dass die Stimmen aus der Praxis von der Politik berücksichtigt werden – damit die Erfolgsgeschichte der integrierten Versorgung in der Schweiz fortgeschrieben werden kann. Von einer weiteren politisch top down gesteuerten (Über-)Regulation ist aktuell abzusehen. Stattdessen sind die laufenden Finanzierungs- und Tarifierungsreformen voranzutreiben. Die Evaluation ihrer Umsetzung sowie die Evaluation der bereits verabschiedeten Reformen werden wesentliche Erkenntnisse für die Wege einer weiteren zukunftsfähigen Förderung der integrierten und koordinierten Versorgung zeigen.
nora.wille[at]fmh.ch
1 Eidgenössisches Departement des Inneren EDI, Bundesamt für Gesundheit BAG. Faktenblatt, Netzwerke zur koordinierten Versorgung, 7. September 2022
2 Gilli Y. Wo Koordination draufsteht, steckt staatliche Koordination drin. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(46):24-25; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21247
3 Bundesamt für Statistik, Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2021 (Tabelle 3.03, Datenstand 16.8.2022)
4 Schusselé Filliettaz S, Kohler D, Berchtold P, Peytremann-Bridevaux I. Soins intégrés en Suisse. Résultats de la 1re enquête (2015–2016). Obsan Dossoer 57. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Obsan.
5 Medienmitteilung SGK-N, 11. November 2022. Netzwerke zur koordinierten Versorgung: Kommission will gemeinsam mit Akteuren des Gesundheitswesens eine zukunftsfähige Lösung finden. URL: https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-sgk-n-2022-11-11.aspx
6 Aus der Mail des BAG vom 2. Dezember 2022 an alle Akteure zur Terminfindung für die Runden Tische
7 22.062 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2) vom 7. September 2022; URL: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/2427/de
8 Wille N, Gilli Y; Kosten dämpfen – Prämien entlasten. Die wichtigste Reform unseres Gesundheitswesens. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2930):932-935; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20923
9 Leitungsgruppe NFP 74 (2023). Programmfazit des Nationalen Forschungsprogramms Gesundheitsversorgung. Schweizerischer Nationalfonds, Bern.