Kritisch denken und besser kommunizieren

Kritisch denken und besser kommunizieren

Praxistipp
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21691
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):80-81

Publiziert am 05.04.2023

Arzt-Patienten-Kommunikation Ärztinnen und Ärzte halten sich konstant auf dem aktuellen Wissensstand. So unterstützen sie Menschen, sich an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen. Dafür sollten sie die Evidenz kritisch betrachten – und das ist oft nicht leicht.
Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben mehrere tausend Gesundheitsfachpersonen im Sommer 2022 zu ihrer professionellen Gesundheitskompetenz befragt, also zu den Herausforderungen in ihrem Informations- und Wissensmanagement, in der Vermittlung von Informationen und generell der Kommunikation mit Patientinnen und Patienten. Am 16. März 2023 wurden die Studienergebnisse erstmals in einem Webinar präsentiert (die Ärztezeitung wird in einer der nächsten Ausgaben im Detail berichten).
In einer Podiumsdiskussion wurde ich eingeladen, mit der ärztlichen Perspektive die Ergebnisse einzuordnen und die Beobachtung einer Patientin, einer APN und zweier Vertreterinnen von nationalen Behörden zu reflektieren. Der Begriff der professionellen Gesundheitskompetenz liess mich zunächst an meiner eigenen Begriffskompetenz zweifeln, da ich den Praxisbezug nicht intuitiv herstellen konnte.
© Luca Bartulović

Was uns leicht fällt und was schwer

Ziel des Ländervergleichs war es, herauszufinden, welche Schritte bei der Unterstützung von Gesundheitskompetenz uns Fachpersonen Mühe machen. Der Prozess kann so beschrieben werden: Wir lesen Studien und Fachinformationen, fassen die Ergebnisse in unseren Worten für unsere Patientinnen und Patienten zusammen, versuchen sie mit klarer und patientenzentrierter Kommunikation zu unterstützen und gemeinsam eine Entscheidung zu treffen. Dazu gehört auch die Frage, wie wir Fachpersonen Patientinnen und Patienten bei der Einschätzung der Verlässlichkeit von digital gefundenen Informationen unterstützen.
Die Kernaussagen für mich sind: In allen drei Ländern beschreiben Ärztinnen und Ärzte sowie andere Fachkräfte aus dem medizinischen Bereich ein identisches Bild: Wir betrachten es insgesamt als relativ leicht, die Gesundheitskompetenz zu fördern. Erfreulich ist vor allem, dass die patientenzentrierte Kommunikation als wenig schwierig eingeschätzt wird. Aber es gibt auch noch Arbeit: Am schwierigsten ist es für Fachpersonen, statistische Studienergebnisse und deren Evidenz kritisch zu beurteilen. Zudem finden wir es schwierig, Patientinnen und Patienten im Umgang mit digitalen Informationen zu unterstützen.
In der Tat: Prospekte zeigen uns schöne Säulendiagramme und tiefe p-Werte, doch welche Patientinnen und Patienten wurden überhaupt in die Studien eingeschlossen? Lassen sich diese mit denjenigen in meiner Sprechstunde vergleichen? Und auch wenn ein tiefer p-Wert gezeigt wird: Ist der Unterschied nicht nur statistisch, sondern auch klinisch relevant? Wie interpretiere ich Studienresultate bei Krankheit X, Y und Z, wenn alle Krankheiten gleichzeitig vorkommen? Waren die Forschenden dieser Studien unabhängig oder stehen kommerzielle Interessen dahinter?

Die Situation kann verbessert werden

Es braucht also die Fähigkeit, die Evidenz kritisch zu betrachten, sie in den klinischen Kontext unserer Erfahrung zu stellen und für unsere Patientinnen und Patienten die individuell beste Empfehlung zu finden. Die von David Sackett beschriebene evidenzbasierte Medizin umschliesst all diese Elemente und dennoch können wir noch viel lernen, um patientenzentriert zu kommunizieren und Informationen kritisch zu hinterfragen.
Ich sehe viele Gesundheitsfachpersonen in meinem Umfeld, die die gemeinsame Entscheidungsfindung mit viel Expertise, Empathie und Können umsetzen. Dennoch berichteten 40% aller Befragten von Schwierigkeiten, wenn sie ihre Patientinnen und Patienten darin unterstützen sollen, einzuschätzen, ob die gefundenen digitalen Gesundheitsinformationen seriös, falsch oder irreführend sind. Ich denke, dass wir hier ansetzen können. Es sollte zum Beispiel Gesundheitsdossiers geben, die von Personen ohne Interessenskonflikte und gemeinsam mit Patientinnen und Patienten verfasst wurden. Solche digitalen Hilfen können wir dann guten Gewissens empfehlen.
Das Glas ist in Bezug auf die professionelle Gesundheitskompetenz halb voll. Um es weiter zu füllen, sehe ich Interprofessionalität, Patientenzentrierung und kritisches Denken als wichtige Zutaten, die wir fördern sollten.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Sven Streit
Leiter Interprofessionelle Grundversorgung, Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM), Universität Bern, Hausarzt