Kognition bei Multipler Sklerose

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21695
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(17):73-75

Publiziert am 26.04.2023

Herausforderung Neben den klassischen physischen Symptomen, die im Rahmen einer Multiplen Sklerose (MS) auftreten können, stellen die kognitiven Störungen mit einer Prävalenz von bis zu 50% einen sehr ernst zu nehmenden Faktor dar, wenn es um die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, der sozialen Teilhabe, der Fahreignung aber auch der gesamten Lebensqualität der Betroffenen geht.
Trotz wachsender Möglichkeiten der verlaufsmodifizierenden Therapie der MS stellt diese prototypische, neuroimmunologische Autoimmunerkrankung, von der schweizweit ca. 15 000 Personen betroffen sind, Betroffene und Therapeutinnen und Therapeuten vor grosse Herausforderungen. Nicht nur kann es bereits in jungem Erwachsenenalter zu nennenswerter körperlicher Behinderung kommen, sondern es treten auch früh und unabhängig von neurologischer Behinderung neuropsychologische Symptome wie eine Fatigue und kognitive Störungen auf – mit relevantem Einfluss auf Gesellschaft und Gesundheitskosten.
Kognitive Störungen treten über alle Verlaufsformen (schubförmig-remittierend, sekundär progredient, primär progredient) hinweg betrachtet mit einer Prävalenz von 40-50% auf [1], wobei ein exponentieller Anstieg bei Patienten mit einem sekundär progredienten Verlauf zu beobachten ist [2]. Trotz der beachtlichen Prävalenz und ungeachtet der Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche der Betroffenen wie z. B. soziale Teilhabe, Arbeitsfähigkeit und Fahreignung, werden diese kognitiven Veränderungen in den klinischen Routinekonsultationen immer noch viel zu wenig beachtet. Dies mag nicht zuletzt darauf zurückführbar sein, dass kognitive Veränderungen nicht über eine typische körperliche neurologische Untersuchung zuverlässig eingeschätzt werden können [3] oder mittels des Behinderungsgrades anhand der Expanded Disability Status Scale (EDSS; [4]) quantifizierbar sind. Letzteres hat eine gross angelegte europäische Studie im Jahr 2017 sehr überzeugend darstellen können, indem Betroffene mit einer EDSS von 0 bis –3 Punkten (entsprechend keine neurologischen Symptome/Zeichen bis mässiggradige Behinderung) bereits kognitive Veränderungen angaben, die in der Folge negative Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit hatten und damit die Kostenbelastung durch MS anstiegen liessen [5]. Der direkte Zusammenhang zwischen kognitiver Leistungsfähigkeit und Erwerbstätigkeit ist mittlerweile unumstritten, es mangelt allerdings an der Umsetzung einer reliablen und regelmässigen Erfassung des kognitiven Status in der klinischen Routine. Diese wäre auch vor dem Hintergrund der Beurteilung der Fahreignung der MS-Betroffenen von besonderer Relevanz. So hat sich gezeigt, dass wenn MS-Betroffene kognitive Störungen aufweisen, das Unfallrisiko siebenfach erhöht ist im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen, aber auch im Vergleich zu MS-Betroffenen, die keine kognitiven Störungen haben [6]. Vor dem Hintergrund der Bedeutsamkeit der Kognition für Arbeitsfähigkeit, Fahreignung und insgesamt soziale Teilhabe, aber auch um Patienten unter einer gegebenen Immuntherapie zu monitoren, ist ein regelmässiges kognitives Screening einmal pro Jahr dringend angeraten [7].
BICAMS als internationaler Standard für ein Kognitionsscreening bei MS.

Welche kognitiven Domänen sind bei MS typischerweise betroffen?

Die kognitiven Veränderungen bei Personen mit MS fokussieren sich im Wesentlichen auf vier Bereiche: kognitive Verlangsamung (Einschränkung in der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit), Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis und Lernen, Beeinträchtigungen der mentalen Flexibilität (Multitasking) und der Aufmerksamkeit. Als «rote Flagge» im Sinne der primär betroffenen Domäne, hat sich die Einbusse in der Geschwindigkeit herausgestellt. Diese Verlangsamung lässt sich oftmals bereits zum Krankheitsbeginn mit sensitiven Testverfahren objektivieren und führt häufig dazu, dass auch andere kognitive Teilleistungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Zudem ist eine gute kognitive Geschwindigkeit in unserer Hochleistungsgesellschaft von besonderer Bedeutung. Wer in kurzer Zeit viel leistet, viele Dinge parallel bearbeiten kann und dabei noch eine gute Qualität abliefert, ist beruflichen Mitstreitern gegenüber im Vorteil. Wer aber für eine gute Qualität doppelt so viel Zeit benötigt, fällt im sozialen und beruflichen Umfeld sofort auf. Letzteres ist genau das, was MS-Betroffenen häufig passiert und eindrücklich in Äusserungen wie «früher konnte ich mehrere Dinge gleichzeitig sehr schnell erledigen, heute geht das nur noch, wenn ich eine Sache nach der anderen mache und dafür auch noch doppelt so viel Zeit habe» zu Tage tritt. Somit haben die kognitiven Domänen, die bei der MS im Speziellen beeinträchtigt sind, eine hohe Alltagsrelevanz und stellen zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung eine beachtliche Belastung für die Betroffenen dar.

Monitoring der kognitiven Leistungsfähigkeit

Aufgrund der Bedeutsamkeit der kognitiven Leistungsfähigkeit für das Berufs- und Sozialleben der Patienten ist eine regelmässige Erfassung des kognitiven Status einmal pro Jahr angeraten. Diese Dokumentation dient dazu, dem Patienten zum einen zu signalisieren, dass er von seiner Therapie profitiert und er auch hinsichtlich der Kognition stabil ist, zum anderen sollte ein sich deutlich verschlechternder kognitiver Status auch immer Anlass dazu geben, die gegenwärtige Therapie kritisch zu überdenken.
Ein international empfohlenes Instrument um den kognitiven Status im Rahmen der klinischen Routine zu erfassen, ist die Screening Batterie Brief International Cognitive Assessment for Multiple Sclerosis (BICAMS) [8]. Sie besteht aus drei Testverfahren, dem Symbol Digit Modalities Test (SDMT) [9], dem verbalen Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT) [10] und dem Brief Visual Memory Test-Revised (BVMT-R) [11]. Die Durchführungszeit für die gesamte Screeningbatterie liegt bei ca. 20 Minuten. Steht für die Durchführung der Gesamt-BICAMS-Batterie nicht ausreichend Zeit zur Verfügung, empfiehlt es sich, die BICAMS-Kurz-Batterie, bestehend aus der Kombination von SDMT und BVMT-R, regelmässig einmal pro Jahr durchzuführen [7, 12] (siehe Abb.). Die Durchführung nimmt 10 Minuten in Anspruch und die Aussagekraft ist dabei äusserst gut. Wichtig bei der Anwendung der Screeningverfahren ist eine ruhige Umgebung ohne Störreize und ein für die Tests geschulter Untersucher. Nach entsprechender Schulung in Anwendung, Auswertung und Interpretation können die Screeningverfahren von Hausärzten oder Ärzten anderer, nicht neurologischer Fachrichtung angewendet werden. Selbstverständlich ersetzen Screeninginstrumente keine elaborierte neuropsychologische Untersuchung. Sie sollen eher dazu dienen, eine Sensibilisierung und Awareness für die Kognition zu entwickeln und können bei deutlich abfallender Leistung im Vergleich zum individuellen Vortest frühzeitig eine kognitive Verschlechterung aufzeigen. In solchen Fällen ist das Anordnen einer elaborierten neuropsychologischen Untersuchung indiziert, in der gegebenenfalls auch die Frage nach der Fahreignung adressiert werden kann.

Behandlungsansätze

Die Behandlung der kognitiven Störungen bei MS stellt eine grosse Herausforderung dar. Zu den verlaufsmodifizierenden Immuntherapien liegen generell nur wenige Daten zur Kognition und keine Klasse I Evidenz vor. Dennoch kann von einem nicht zu unterschätzenden Sekundäreffekt auf die Kognition im longitudinalen Verlauf ausgegangen werden, da die Immuntherapien einen positiven Einfluss auf Schubrate, Inflammation und strukturelle Schädigung des Gehirns nehmen und so zumindest indirekt auch das kognitive Netzwerk einen gewissen Schutz erfährt. Der Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit ist auch im Rahmen der Therapieadhärenz ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Zur symptomatischen Behandlung der kognitiven Teilleistungsstörungen muss leider konstatiert werden, dass es keine hinreichende Evidenz für die Wirksamkeit der untersuchten Medikamente gibt, zu denen Modafinil, 4-Aminopyridin, Amantadin, L-Amphetamin, Methylphenidat, aber auch Antidementiva wie Donepezil, Rivastigmin, und Memantin zählen [13, 14].
Zu den nicht-pharmakologischen Interventionen ist zu sagen, dass sich moderates Ausdauertraining positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt und eine Studie zur Beantwortung der Frage nach der Intensität gezeigt hat, dass intensives, moderates und leichtes Training sich gleichsam positiv auswirken. Dies bedeutet, dass Patienten sich durchaus auch körperlich fordern können, sie aber die Trainingsintensität ihrer jeweiligen Verfassung anpassen sollten. Wichtig ist, dass überhaupt körperliche Aktivität durchgeführt wird [15, 16].
Neben sportlicher Aktivität ist auch Hirnleistungstraining eine Massnahme, von der viele Patienten und Patientinnen profitieren [17, 18]. Das Training sollte allerdings spezifisch auf die jeweiligen im Vordergrund stehenden Defizite zugeschnitten sein und nicht einen Rundumschlag darstellen im Sinne von «viel hilft auch viel». Daher sollten Hirnleistungstrainings immer erst nach erfolgter neuropsychologischer Untersuchung therapeutisch empfohlen werden, um die Spezifizierung der Intervention sicher zu stellen.
Zudem haben meditative und neuroedukative gruppenbasierte Behandlungsansätze zeigen können, dass sie sich nicht nur positiv auf die Lebensqualität, sondern vor allem auf die Selbstwirksamkeit der Patienten auswirken [19, 20]. Diese Ansätze sind vielversprechend, weil sie nicht nur auf die Verbesserung einzelner Funktionen oder Symptome, sondern eher auf Selbstwirksamkeit, Resilienz und Coping abzielen und damit den Umgang mit einer chronischen Krankheit wie der MS verbessern helfen.

Fazit für die Praxis:

Kognitive Defizite sind ernst zu nehmende Symptome der MS mit hoher Relevanz für den Alltag und die Berufsfähigkeit der Betroffenen, die im Gesamtkontext mit Fatigue, Apathie, Depression, Angst und den körperlichen Einschränkungen das Gesamtbild einer MS im Wesentlichen mitbestimmen. Daher empfiehlt sich ein explizites Nachfragen seitens des Untersuchers bereits im anamnestischen Gespräch.
Um einen Verlauf über die Zeit und einen Vergleich zu einem Ausgangswert bei potentieller Verschlechterung über die Zeit dokumentieren zu können, sollte das Erheben des kognitiven Status bereits im Rahmen der Diagnosestellung erfolgen und nicht erst, wenn die Betroffenen Veränderungen beklagen.
Es gibt Evidenz dafür, dass eine frühzeitige Immuntherapie auch als Benefit im Hinblick auf die kognitive Leistungsfähigkeit über die Zeit zu werten ist.
Eine deutliche kognitive Verschlechterung (z. B. > 8 Punkte im SDMT) sollte in der Gesamtschau mit anderen Faktoren (v. a. MRT) Anlass dazu geben, die bestehende Therapie kritisch zu überdenken.
Neuroedukative und achtsamkeitsbasierte Behandlungsmethoden sind vielversprechende Ansätze für das Erlernen des Umgangs mit kognitiven Problemen – diese können in unserem Zentrum interessierten Betroffene mit MS angeboten werden.
Prof. Dr. Iris-Katharina Penner
Leitung universitäre Neuropsychologie an der Klinik für Neurologie und universitäre Neurorehabilitation des Inselspital Bern und der Rehaklinik in Riggisberg. Seit 2015 Direktorin des COGITO Zentrums in Düsseldorf.
Prof. Dr. Andrew Chan
Chefarzt an der Universitätsklinik für Neurologie, sowie Ärztlicher Leiter der Medizinischen Abteilung Neuro am Inselspital Bern Universitätsspital und an der Universität Bern.
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