Rahmenbedingungen sollen «Chronischen Erkrankungen» gerecht werden

Rahmenbedingungen sollen «Chronischen Erkrankungen» gerecht werden

Leitartikel
Ausgabe
2023/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21700
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(13):24-25

Publiziert am 29.03.2023

Rahmenbedingungen schaffen Die Begleitung und Betreuung von Personen mit chronischen Erkrankungen ist eine wichtige Aufgabe des Gesundheitswesens. Damit diese Leistungen weiterhin mit hoher Qualität erbracht werden können, bedarf es der Berücksichtigung diverser Aspekte.
Lebensstil und Gesundheitsverhalten sind geprägt von biologischen und sozialen Faktoren. Entsprechend gibt es neben der Gesundheitsförderung, die allgemeiner, unspezifischer und früher ansetzt, verhaltens- und verhältnispräventive Ansätze, um chronische Erkrankungen möglichst zu vermeiden. Das Arzt-Patientengespräch ist auch dafür Dreh- und Angelpunkt, sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich. Von gesundheitspolitischer, regulatorischer Seite haben sich die Rahmenbedingungen für dieses günstige, zentrale Element ärztlicher Tätigkeit leider massgeblich verschlechtert. Dies spüren sowohl die Medizinal- und Gesundheitsberufe als auch die Patientinnen und Patienten direkt oder indirekt. Dieser negativen Entwicklung versucht die FMH entgegen zu halten: Im Bereich der Ausbildung an den medizinischen Fakultäten gehört seit PROFILES motivierende Gesprächsführung zu den wichtigen Zielen. Im Rahmen von PEPra, einem Projekt zur Förderung der Prävention in der ambulanten Grundversorgung, wurde von Experten der Fachgesellschaften eine Präsenzfortbildung und neu ein E-Learning mit innovativen Ansätzen geschaffen, das sich an Ärztinnen und Ärzte wie auch an medizinische Praxisfachpersonen richtet. Mehr zu motivierender Gesprächsführung finden Sie übrigens in dieser Ausgabe der SAEZ. Die Evidenz für die Wirksamkeit motivierender Gesprächsführung ist in den letzten Jahrzehnten sehr gut belegt worden. Mit dem Ansatz von PEPra können Ärztinnen und Ärzte, respektive das Praxisteam Themen wie Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegung und Süchte aller Art besser ansprechen. PEPra soll im gedrängten Praxisalltag Unterstützung bieten. Anwendungsorientierte Informationen und Tools zu ausgewählten Präventionsthemen für vor, während und nach der Sprechstunde stehen dem gesamten Praxisteam auf der Website www.pepra.ch kostenlos zur Verfügung.
Carlos Quinto
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Public Health und Gesundheitsberufe

Koordination

Bei Patientinnen und Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen sind meist verschiedene Personen der Medizinal- und Gesundheitsberufe sowie Familienangehörige und manchmal Sozialdienste involviert. Das macht die Koordination zu einem wichtigen Aspekt. Allerdings gibt es für diese nur eine marginale oder gar keine Entschädigung. Denn die Zeit für den Austausch wurde auf 30 Minuten pro Quartal heruntergekürzt. Jedoch treten Krisen bei Patientinnen und Patienten nicht gleichmässig pro Quartal auf. Der TARDOC würde hierfür eine massive Verbesserung bringen, da auch nichtärztliche Berufe erstmals entschädigt würden und mehr Flexibilität ermöglicht wird, da 2 Stunden pro Jahr zu Verfügung stünden, statt 30 Minuten pro Quartal. Viele geben ihre berufliche Tätigkeit im Gesundheitswesen auf, da solche regulativen Eingriffe nicht mehr eine qualitativ gute Patientenbetreuung erlauben, wie sie in der Aus- und Weiterbildung gelehrt wird. Die Rahmenbedingungen für eine patientengerechte Koordination müssen spürbar verbessert werden, nachdem sie in den letzten 15 Jahren deutlich verschlechtert wurden. Bildlich gesprochen ist es so, dass vom Corps Medical verlangt wird, schneller zu schwimmen und gleichzeitig gesetzlich jeglicher Gebrauch von Taucherflossen verboten wird, über deren Gebrauch das Corps Medical früher situativ selbst entscheiden konnte.
Ärztinnen und Ärzte haben zu wenig Zeit für ihre Patientinnen und Patienten.
© catiamadio / Dreamstime

Eigenschaften chronischer Erkrankungen

Chronische Erkrankungen sind eben chronisch: Zum Erhalt des Gleichgewichts sind Patientinnen und Patienten meist auf länger anhaltende oder dauerhafte Therapien sowie chronisch auf Hilfsmittel angewiesen: Etwa auf das Tragen von Venenkompressionsstrümpfen oder Physiotherapie. Es ist relativ sinnfrei, in Monatsabständen von Ärztinnen und Ärzten Berichte anzufordern, warum die Patientinnen und Patienten diese Hilfsmittel oder jene Therapien benötigen. Sie brauchen diese, um ihren Alltag meistern zu können. So werden Komplikationen und Hospitalisationen vermieden – die alle ein Mehrfaches kosten würden. In über zwanzig Jahren Praxistätigkeit sind mir noch keine Patienten begegnet, die in missbräuchlicher oder süchtiger Weise Inkontinenzhosen tragen. Diese werden wirklich nur von den Personen getragen, die darauf angewiesen sind. Über weitere, Patienten erniedrigende und medizinisch sinnfreie Kontrollansätze, wie sie von Krankenkassen und der Gesundheitspolitik realitätsfern in diesem Zusammenhang vorgeschlagen werden, äussern wir uns an dieser Stelle nicht. Diese Ansätze binden Ressourcen ohne Nutzen und verschlechtern die Qualität des Gesundheitswesens.
Die Zeit für die Patientenbetreuung wird noch knapper und es ist verständlich, dass deshalb Assistenzärztinnen und -ärzte heute dreimal häufiger als früher die Weiterbildung abbrechen und nicht mehr klinisch tätig sein werden, nicht mehr für Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen. Die Negativspirale dreht sich weiter, Qualitätsabnahme und Sinnentleerung sind weitere Folgen. Das Heer von am Schreibtisch tätigen Bürokraten nimmt zu und niemand findet sich mehr an der Front, der sich um die Menschen kümmert. Man kann Probleme nicht mit den Denkansätzen lösen, mit denen man sie verursacht. Das gilt notabene auch für die zunehmende und grosse Problematik der nicht mehr verfügbaren Medikamente in der Schweiz. Die Dosis macht das Gift: Der administrative Aufwand hat in den letzten Jahren im Gesundheitswesen ein toxisches, lähmendes Ausmass erreicht.

Die Menschen nicht vergessen

Die Menschen gehen dabei vergessen; sie werden durch Formulare, egal ob auf einem Bildschirm oder in Papierform, immer mehr aus dem Fokus gedrängt. Anfällig für solche Fehlentwicklung sind komplexe Systeme, in denen zu viele Einzelaufgaben geschaffen werden, so dass der Blick auf das Ganze verloren geht. Der klassische Tunnelblick, also nur sehr partiell und limitiert wahrgenommene Verantwortung und Abgrenzung im schlechten Sinn, tragen das Übrige dazu bei. Niemand hat mehr den Überblick und die Ressourcen für diejenigen, die ihn noch haben könnten, wurden deutlich beschnitten. Ist das die Zukunft, die wir uns wünschen? Nein. Deshalb steht die FMH ein für einen teamorientierten Ansatz, der die Zeit für Kommunikation zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient in respektvoller Art wieder ermöglicht und der eine gute Koordination sowie Betreuung und Behandlung von Patientinnen und Patienten erlaubt.