Der Ritt auf dem toten Pferd

Der Ritt auf dem toten Pferd

Leitartikel
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21709
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):24-25

Publiziert am 05.04.2023

Gesundheitspolitik Den Dakota-Stämmen wird die Weisheit zugeschrieben «Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab». Genauso sollten auch untaugliche Gesetzesvorlagen wie die «Netzwerke zur koordinierten Versorgung» verworfen werden. Leider gibt es aber viele Wege und Gründe, tote Pferde schönzureden.
Als das Volk im Juni 2012 die Managed-Care-Vorlage mit wuchtigen 76% an der Urne versenkte, kommentierte die NZZ: «Das Ziel war, dass sich bis zu 70 Prozent der Versicherten Ärztenetzen anschliessen würden. Sie hätten sich nur noch nach Rücksprache mit ihrem Hausarzt von einem Spezialisten behandeln lassen. Nach dem Nein vom Wochenende fällt nun auch dieser regulierende Effekt beziehungsweise Damm gegen eine Spezialistenflut weg.» [1] Heute wissen wir: Auch ohne das damals geplante Gesetz wurde dieses Ziel nicht nur erreicht, sondern sogar übererfüllt. Im Jahr 2021 – keine zehn Jahre nach der Abstimmung – entschieden sich 76% aller Versicherten für ein alternatives Versicherungsmodel und sparten damit durchschnittlich über 1000 Franken Jahresprämie – ohne dass der Gesetzgeber hätte nachhelfen müssen.
Yvonne Gilli
Dr. med., Präsidentin der FMH
Angesichts dieser Erfolgsgeschichte der alternativen Versicherungsmodelle (AVM) könnte man annehmen, das Stimmvolk hätte damals auf das richtige Pferd gesetzt. Auch das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan hielt fest, dass «trotz der ungenügenden Anreize (…) bemerkenswert viele, unterschiedliche und auf alle Regionen verteilte Initiativen» zur integrierten Versorgung existierten, deren Entwicklung sich zudem seit einigen Jahren stark beschleunige [2]. Zwar ist auch dieses Pferd nicht ohne Makel unterwegs: Nicht alle Menschen, die von einem AVM profitieren könnten, sind in einem solchen versichert – und nicht alle AVM bieten echte Netzwerkmodelle an. Auch für unser erfolgreiches Pferd bleibt also durchaus Verbesserungspotenzial.
rocking horse chair
Die Tendenz, ein totes Pferd weiter reiten zu wollen, hat dem Gesundheitswesen bereits mehrere fragwürdige Gesetze beschert.
© Nirutdt / Dreamstime

Koordination wächst durch Akteure...

Wie sich das verbleibende Potenzial ausschöpfen liesse, zeigt unter anderem das Nationale Forschungsprogramm NFP 74 auf, das sich intensiv mit der Koordination im Gesundheitswesen befasste. Seine erste Empfehlung an die Systemgestalter lautet: «Es braucht geeignete finanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen, um innovative Versorgungsmodelle zu erproben und bei Eignung zu multiplizieren.» [3] Das NFP 74 plädiert dafür, «punktuelle Lösungen und innovative Ansätze in einem Bottom-up-Prozess zu verwirklichen» und gegebenenfalls auszuweiten. Letztlich seien die Kultur und «die Menschen, die ein System im Alltag prägen», entscheidend: «Wir sollten nicht alles top-down zu regulieren versuchen, sondern insbesondere auch die Eigeninitiative fördern – sowohl der Patientinnen und Patienten wie auch der Gesundheitsfachpersonen.» [4]

… nicht durch Bundesvorgaben

Als der Bundesrat im September 2022 sein zweites Kostendämpfungspaket vorlegte, ignorierte er leider all diese Entwicklungen und Erkenntnisse. Statt zu prüfen, wie sich die Erfolgsgeschichte der AVM weiterentwickeln liesse, wie sich die Rahmenbedingungen für innovative bottom-up Modelle verbessern liessen und zu eruieren warum sich Versicherte gegen Netzwerkmodelle entscheiden, schickte er ein zweites Pferd ins Rennen: Mit einem neuen, top-down konzipierten Leistungserbringer möchte er eine Parallelstruktur von «Netzwerken zur koordinierten Versorgung» schaffen, die die Patientenversorgung gemäss Vorgaben des Bundes koordinieren [5]. Warum dieser noch nie erprobte Leistungserbringer besser funktionieren sollte als die bereits bestehenden Netzwerke und warum Versicherte, die AVM meiden, ausgerechnet diesen neuen Leistungserbringer aufsuchen sollten, der ihnen nicht einmal Prämienrabatte bringt, bleibt dabei unklar.

An den Bedürfnissen der Praxis vorbei

Dass dieser am Schreibtisch entworfene, neue Leistungserbringer an den realen Herausforderungen der koordinierten Versorgung vorbei geht und diese nicht fördern, sondern sogar behindern würde, wurde spätestens beim Hearing in der nationalrätlichen Gesundheitskommission (SGK-N) im Oktober deutlich. Für die Vertreter eben jener Menschen, die das «System im Alltag prägen» war grossmehrheitlich klar: Dieses Konstrukt wird nicht funktionieren. Dieses Pferd ist tot und fürs Reiten untauglich. Konfrontiert mit dem «starken Widerstand» der betroffenen Akteure beschloss die SGK-N dem bundesrätlichen Pferd eine Chance zur Wiederbelebung zu geben: An runden Tischen sollte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit den Vertretern des Gesundheitswesens eine Lösung finden [6]. In der Folge fanden sich 15 Akteure zu drei Terminen im BAG ein, wo anhand vorgegebener Traktanden das tote Pferd analysiert wurde und viele Inputs und Präsentationen des BAG zeigten, was das Pferd alles könnte, wenn es denn leben würde.

Die Wiederbelebung ist gescheitert

Trotz dieser Mühen liessen sich auch im Verlauf der drei runden Tische bei dem toten Pferd keine zuvor unbekannten Vitalzeichen erkennen. Vielmehr zeigte sich, dass ein totes Pferd auch dann keine Kutsche ziehen kann, wenn man ihm die Mähne stutzt. Aus einem Gesetzesentwurf, den die Akteure des Gesundheitswesens aus guten Gründen grossmehrheitlich ablehnen, wird nicht mit einigen Anpassungen eine gute Idee. Warum der neue Leistungserbringer die koordinierte Versorgung nicht verbessern kann, legen die FMH, H+, medswiss.net, mfe und pharmaSuisse gemeinsam ab Seite 26 in dieser Ausgabe dar, ergänzt mit Stellungnahmen des Dachverbands der schweizerischen Berufsorganisationen im Gesundheitswesen (SVBG) und des Konsumentenschutzes [7]. Die Akteure beschränken sich aber längst nicht nur auf Kritik an dem vorliegenden Gesetzesentwurf – sie zeigen auch Lösungsansätze für eine echte Förderung der Koordination im Gesundheitswesen auf.

Nun gilt es abzusteigen …

Es ist zu hoffen, dass diese Stimmen aus der Praxis im Gesetzgebungsprozess Gehör finden. Bei vielen Akteuren bleibt jedoch der Eindruck, dass es Verwaltung und Politik schwer fällt den neuen Leistungserbringer zu verwerfen – obwohl ihn diejenigen, die ihn mit Leben füllen müssten, als untauglich ablehnen. Die Tendenz, ein totes Pferd weiter reiten zu wollen, hat dem Gesundheitswesen bereits mehrere fragwürdige Gesetze beschert. Eine wichtige Rolle dürfte dabei die sogenannte «sunk-cost-fallacy» spielen: Wir Menschen neigen dazu, auch schlechte Handlungsoptionen weiterzuverfolgen, wenn wir selbst oder andere bereits viel Aufwand in diese investiert haben. Liegt erst einmal ein ausgearbeiteter Gesetzesentwurf vor, möchte man lieber «noch etwas daraus machen» als ihn einfach bachab zu schicken. Auch der Wunsch überhaupt ein Pferd vorweisen zu können, begünstigt das Festhalten an einem toten Pferd. Nicht selten hört man im Parlament: Wenn wir das jetzt auch noch streichen, steht ja nichts mehr drin. Wenn wir dieses Pferd für tot erklären, haben wir keines mehr.
Aufschlussreich ist darum auch die Besänftigung, das tote Pferd würde doch niemanden stören. So argumentierte das BAG mehrfach, im schlimmsten Fall würde einfach gar nichts geschehen und das Gesetz bliebe eine leere Hülle. Abgesehen davon, dass das nicht stimmt (siehe S. 26), argumentiert so niemand, dem es um die Sache geht: Die Koordination im Gesundheitswesen ist schlicht zu wichtig für leere Hüllen. Wir brauchen kein totes Pferd, wir brauchen ein gutes!

… und umzusatteln

Die gute Nachricht ist: Wir haben mit den sich verbreitenden AVM bereits ein sehr erfolgreiches Pferd. Wir wissen ausserdem durch die Managed-Care-Ablehnung von 2012, dass die Weiterentwicklung der Versorgungslandschaft auch ohne neue Gesetzgebung funktioniert. Wir haben ein NFP 74, das eine Förderung der Koordination in der Patientenversorgung mit und nicht gegen die Akteure des Gesundheitswesens empfiehlt. Und wir haben viele Akteure, die viele zukunftsweisende Lösungswege zusammengetragen haben. Es wäre also kein Verlust, sondern ein Gewinn, den neuen Leistungserbringer ganz offiziell für tot zu erklären – und sich auf funktionierende Alternativen zu konzentrieren.
2 Schusselé Filliettaz S, Kohler D, Berchtold P, Peytremann-Bridevaux I. Soins intégrés en Suisse. Résultats de la 1re enquête (2015–2016). Obsan Dossier 57. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Obsan.
3 Leitungsgruppe NFP 74 (2023): Programmfazit des Nationalen Forschungsprogramms Gesundheitsversorgung (NFP 74), Schweizerischer Nationalfonds, Bern.
4 Ritter A. «Die Grundversorgung muss gestärkt werden»; Schweiz Ärzteztg. 2023;103(12):12-15; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2023.21601
5 Gilli Y. Wo Koordination draufsteht, steckt Administration drin; Schweiz Ärzteztg. 2022;103(46):24-25; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21247
6 Medienmitteilung der SGK-N, 11. November 2022. Netzwerke zur koordinierten Versorgung: Kommission will gemeinsam mit Akteuren des Gesundheitswesens eine zukunftsfähige Lösung finden; URL: https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-sgk-n-2022-11-11.aspx
7 Bütikofer A-G, Gilli Y, Götschi AS, Kraft E, Luchsinger P, Mesnil M, Ruggli M, Trutmann M, Wille N. Koordination stärken statt Koordination überregulieren; Schweiz Ärzteztg. 2023;104(14–15):26–30; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2023.21709