Weshalb die IV-Rechtsprechung für die Ärzteschaft relevant ist

Aktuell
Ausgabe
2023/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21739
Schweiz Ärzteztg. 2023;(16):28-30

Affiliations
a Dr. med., Facharzt für Rheumatologie, EMBA, ehemaliger Chefarzt MEDAS Zentralschweiz b Dr. iur., Juristin FMH Rechtsdienst; c Dr. med., M.H.A., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Präsident Swiss Insurance Medicine (SIM)

Publiziert am 19.04.2023

Versicherungsmedizin Bundesgerichtliche Rechtsprechung zur gutachterlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei psychischen Erkrankungen – Quo vadis?
Medizin und Recht basieren auf eigenen Grundlagen und pflegen eine eigene Methodik. Im Berufsalltag beider Disziplinen kommt es zu vielfältigen Berührungen. Gesetz und Rechtsprechung definieren für die in der Versicherungsmedizin tätigen Gutachterinnen und Gutachter verbindliche Vorgaben. Im Sozialversicherungsrecht, insbesondere in der Invalidenversicherung, hat das Bundesgericht mittels Leiturteilen Anforderungen an die medizinische Begutachtung definiert und im Laufe der Jahre präzisiert. Tatsache ist, dass ein Vollzug des Sozialversicherungsrechts nicht ohne Mithilfe der Ärzteschaft möglich ist. So müssen beide Seiten die je andere Denk- und Handlungsweise verstehen und respektieren. Alt-Bundesrichter Ulrich Meyer hat so Medizin und Recht auch als die beiden «Schwesternwissenschaften» bezeichnet.
Medizin und Recht – zwischen beiden besteht keine starre Grenze, sondern sie können auch als Schwesternwissenschaften bezeichnet werden.
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Zweck der Invalidenversicherung

Aus der Botschaft des Bundesrats zur Einführung einer eidgenössischen Invalidenversicherung vom 24. Oktober 1958 [1] geht hervor, dass es das primäre Ziel war, Menschen zu unterstützen, die aufgrund einer Behinderung nicht mehr fähig sind, ihre Existenz aus eigener Kraft zu finanzieren. Die Unterstützung soll in erster Linie einen Arbeitsplatzerhalt oder eine Wiedereingliederung gewährleisten. Erst in zweiter Linie soll eine Berentung in Betracht gezogen werden, wenn professionelle Eingliederungsbemühungen scheitern. Diese Zielsetzung ist auch nach sieben IVG-Revisionen unbestritten. Interessant ist, dass die Botschaft von 1958 vorsah, den eher vagen Krankheitsbegriff in enger Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft zu schärfen und im Rahmen des wissenschaftlichen Fortschrittes weiterzuentwickeln.
Die bundesrätliche Botschaft sah nicht vor, dass das Recht von einem anderen Krankheitsbegriff und anderen Definitionen ausgehen soll als die Medizin. Diesem Grundsatz wurde seitens Recht in den letzten Jahren nicht immer konsequent nachgelebt. Das Sozialversicherungsrecht benutzt schwergewichtig (immer noch) ein biopsychisches Krankheitsmodell, unter Ausschluss der psychosozialen Faktoren, die als «invaliditätsfremd» eingestuft werden. Die Medizin basiert dagegen seit Ende der 1970er-Jahre auf einem umfassenden biopsychosozialen Krankheitsmodell. Die Schaffung der Krankheitsgruppe «pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage», abgekürzt PÄUSBONOG, war ein juristisches Konstrukt, losgelöst von der Einteilung der Krankheiten in der «International Classification of Diseases» (ICD).
Das Bundesgericht hatte nämlich in einem Leiturteil ausgeführt, es sei geboten, sämtliche «pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage den gleichen sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen». Es rechtfertige, dass die «im Zusammenhang mit somatoformer Schmerzstörung entwickelten Kriterien auch für die Beurteilung der invalidisierenden Wirkung einer spezifischen HWS-Verletzung ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle analog anzuwenden» seien [2].

IV-Abklärung: Beitrag der Medizin

Zur Beurteilung, ob und in welchem Ausmass eine funktionelle Einschränkung (Behinderung) vorliegt, dazu wird medizinischer Sachverstand benötigt. Ob die ärztlicherseits festgestellten funktionellen Einschränkungen zu Leistungen der Invalidenversicherung berechtigen, ist abschliessend von der Rechtsanwendung zu entscheiden. Die medizinische Leistungseinschätzung bietet die Grundlage, aufgrund derer der Rechtsanwender den juristisch korrekten Entscheid fällen kann.
Eine medizinische Diagnose lässt kaum Rückschlüsse darauf zu, ob eine relevante funktionelle Einschränkung vorliegt oder nicht. Die Diagnose «koronare Herzkrankheit» allein sagt nichts darüber aus, ob der betroffene Mensch seinen Verpflichtungen in Familie, Beruf und Gesellschaft und seinen gewohnten Freizeitaktivitäten nachgehen kann. Zur Beschreibung einer Behinderung sind ergänzende Instrumente notwendig. Dazu hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2001 die «International Classification of Functioning, Disability and Health» (ICF) publiziert. Mit den Instrumenten der ICF können Art und Ausmass einer funktionellen Behinderung beschrieben werden. Es ist sowohl für Medizinerinnen und Mediziner wie auch für Rechtsanwender wichtig, die Grundzüge der ICF zu kennen. Eine ärztliche Beurteilung auf der Basis der ICF erhöht die Transparenz und baut die Brücke von der Medizin zur Rechtsanwendung [3].

Indikatorenrechtsprechung

Zu der Frage, was im Rahmen der Invaliditätsabklärung zu den Aufgaben der Medizin und zu den Aufgaben der Rechtsanwendung gehört, besteht eine ausführliche Rechtsprechung und ein umfangreiches juristisches Schrifttum. Insbesondere hat die Rechtsprechung mit Leiturteilen die Aufgaben an die Begutachtung von psychischen Erkrankungen bei der Zusprache von Invalidenrenten entwickelt und präzisiert. Ein Blick zurück zeigt, dass das Bundesgericht im Jahr 2015 die Überwindbarkeitsvermutung in Bezug auf somatoforme und vergleichbare psychosomatische Störungen aufgegeben hat und einen strukturierten normativen Prüfungsraster – die Standardindikatoren – für die medizinische Begutachtung bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und für vergleichbare psychosomatische Leiden vorgesehen hat. Die vom Bundesgericht genannten Indikatoren, die für das Vorliegen einer rechtlich bedeutsamen Invalidität sprechen, sind mit medizinischen Erkenntnissen weitgehend vereinbar und entsprechen einem modernen Verständnis von Behinderung und Rehabilitation. Viele der genannten Indikatoren gelten sinngemäss auch für somatische Krankheiten, so insbesondere Schweregrad, Therapieresistenz und Konsistenz des Leidens [4].
Medizinisch-psychiatrische Sachverständige haben bei ihrer Einschätzung und Beurteilung des Leistungsvermögens gemäss der formulierten Standardindikatoren vorzugehen. Einerseits treffe «die Rechtsanwender die Pflicht, die medizinischen Angaben daraufhin zu prüfen, ob die Ärzte sich an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben». Andererseits stelle «sich also aus rechtlicher Sicht die Frage, ob und in welchem Umfang die ärztlichen Feststellungen anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf eine Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen, wie sie vom medizinisch-psychiatrischen Experten abschliessend eingeschätzt worden ist». Aufgabe der psychiatrisch tätigen Gutachterinnen und Gutachter ist, substanziiert darzulegen, «aus welchen medizinisch-psychiatrischen Gründen die erhobenen Befunde das funktionelle Leistungsvermögen und die psychischen Ressourcen in qualitativer, quantitativer und zeitlicher Hinsicht zu schmälern vermögen» [5].
Im Jahr 2017 folgte die Ausweitung dieser bundesgerichtlichen Indikatorenrechtsprechung auf depressive Störungen und auf sämtliche psychische Erkrankungen. Die Ausweitung beziehungsweise die Anwendbarkeit der Standardindikatoren für sämtliche Abhängigkeitserkrankungen erfolgte 2019 durch das Bundesgericht. Seit dem Leiturteil BGE 141 V 481 aus dem Jahr 2015 haben somit psychiatrisch tätige Gutachterinnen und Gutachter die Indikatoren über weitgehend alle psychiatrischen Diagnosen gutachterlich umzusetzen.

Ein bedeutender Rückschritt

Neuere Urteile gefährden den guten Geist der «Indikatorenrechtsprechung», insbesondere das Leiturteil BGE 148 V 49 vom 17. November 2021. Das Bundesgericht spricht sich erneut generalisierend über die Auswirkungen einer bestimmten Erkrankung aus: «Eine leicht- bis mittelgradige depressive Störung ohne nennenswerte Interferenzen durch psychiatrische Komorbiditäten lässt sich im Allgemeinen nicht als schwere psychische Krankheit definieren. Besteht dazu noch ein bedeutendes therapeutisches Potential, so ist insbesondere auch die Dauerhaftigkeit des Gesundheitsschadens in Frage gestellt. Diesfalls müssen gewichtige Gründe vorliegen, damit dennoch auf eine invalidisierende Erkrankung geschlossen werden kann. Attestieren die psychiatrischen Fachpersonen bei diesen Konstellationen trotz Verneinung einer schweren psychischen Störung ohne (allenfalls auf Nachfrage hin erfolgte) schlüssige Erklärung eine namhafte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, besteht für die Versicherung oder das Gericht Grund dafür, der medizinisch-psychiatrischen Folgenabschätzung die rechtliche Massgeblichkeit zu versagen.»
Das Bundesgericht begeht damit aus Sicht der medizinischen Fachexpertise eine Grenzüberschreitung. Die richterlichen Annahmen sind nicht mit der medizinischen Datenlage kompatibel [6]. Das Bundesgericht beurteilte den Rentenanspruch einer 56-jährigen Frau, die 2018 an Brustkrebs erkrankte und – bezüglich Krebsleiden – erfolgreich behandelt werden konnte. Sie litt an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, mit somatischer Komorbidität (Zustand nach Implantation einer Teilprothese am rechten Knie, Diabetes mellitus Typ 2, Brustkrebs, Dyspepsie, linksbetontes Zervikobrachialsyndrom beidseits, rechtskonvexe zervikale Skoliose, belastungsabhängiges Thorakalsyndrom, belastungs-abhängiges pseudoradikuläres Lumbalsyndrom bei links-konvexer lumbaler Skoliose). Die Explorandin wurde in einer MEDAS polydisziplinär begutachtet. Der psychiatrische Fachexperte attestierte 50% Arbeitsunfähigkeit, wobei noch therapeutisches Potenzial bestehe. Das Gutachten wurde vom Gericht als rechtsgenüglich anerkannt. IV-Stelle, kantonales Gericht und Bundesgericht verneinten die invalidisierende Wirkung der psychischen Erkrankung. Aus diesem Einzelfall mit einer ausgesprochenen Multimorbidität leitete das Bundesgericht allgemeine Grundsätze zur invalidenrechtlichen Behandlung einer leichten bis mittelschweren Depression ab, ohne dies nachvollziehbar mit medizinischer Evidenz zu belegen. Zudem orientierte sich das Gericht offensichtlich nur an den Querschnittsbefunden; die Tatsache, dass eine rezidivierende depressive Störung in Bezug auf Vulnerabilität und Prognose ganz anders zu beurteilen ist, als eine leicht- bis mittelgradige Erstepisode, wurde vom Gericht ignoriert.
Das Leiturteil BGE 148 V 49 ist aus medizinischer Sicht insofern ein bedenklicher Rückschritt, als es sich um ein Leiturteil vom Typus «Krankheit X führt nicht zu Effekt Y» handelt. Von der Diagnose wird eine generelle Aussage («im Allgemeinen») zur Auswirkung abgeleitet. Medizinische Tatsachen werden teilweise auf die Ebene von Rechtsfragen erhoben, was zu einer Vermischung von Tatfragen und Rechtsfragen führt.
Das Urteil erinnert damit an die alten Leitentscheide BGE 117 V 359 zum «Schleudertrauma» und BGE 130 V 352 zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Es widerspricht der in BGE 141 V 281 angelobten Ergebnisoffenheit der Prüfung des Einzelfalles und ist auch nicht kompatibel mit medizinischen Erkenntnissen. Wie kann man sich in verallgemeinernder Form zu den Auswirkungen einer Erkrankung äussern, ohne sich auf epidemiologische Daten (die medizinische Fachliteratur) abzustützen? Krankheiten lesen keine Gerichtsurteile! Die bundesgerichtliche Argumentation lautet in verkürzter Form: «Leicht bis mittelschwer ist nicht schwer, deshalb nicht invalidisierend». Das erscheint vordergründig zwar logisch, widerspricht bei näherer Prüfung aber der medizinischen Realität. Es ist nicht zielführend, wenn das höchste Gericht allgemeine Aussagen macht zu den Auswirkungen einer Krankheit, die den Erkenntnissen der medizinischen Forschung widersprechen.
In einer Stellungnahme vom 19. Dezember 2022 [7] haben sich die Interessengemeinschaft Swiss Insurance Medicine (SIM) und die betroffenen psychiatrischen Fachgesellschaften SGVP und SGPP/FMPP wie folgt geäussert: «Abschliessend weisen wir darauf hin, dass inkonsistente Leiturteile wie BGE 148 V 49 zu unangemessenen und ‹nicht medizinisch validen› Entscheidungen führen, insbesondere wenn man der Versicherung oder dem Gericht die Kompetenz einräumt, einer medizinisch-psychiatrischen Folgenabschätzung die ‹rechtliche Massgeblichkeit zu versagen› und stattdessen eine fachfremde Beurteilung vorzunehmen. Sie führen damit zu einer versicherungsrechtlichen Diskriminierung von psychischen Störungen. Es bleibt zu hoffen, dass der ‹Rückfall› des Bundesgerichtes nicht dauerhaft zur Verschlechterung der Situation von psychisch beeinträchtigten Menschen beiträgt. Er sollte vielmehr Anlass dazu sein, den Diskurs auf Augenhöhe zwischen Medizin und Recht umso intensiver weiterzuführen.»

Fazit

Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Invalidität hat auch bedeutende Auswirkungen auf der Ebene der klinischen Betreuung von Patientinnen und Patienten. Das Leiturteil 148 V 49 vom 17. November 2021 wird der Zusammenarbeit zwischen der Ärzteschaft und dem Rechtsanwender nicht förderlich sein, eher vermehrt Sand ins Getriebe streuen. Das Leiturteil begünstigt nicht nachvollziehbare IV-Entscheide durch medizinisch ungeschultes Personal. Es liegt im Interesse der Ärzteschaft, die bundesgerichtliche Rechtsprechung mit wachsamen Augen zu verfolgen und zu kommentieren, wenn sie den medizinischen Erkenntnissen widerspricht. So ist sehr zu begrüssen, dass sich die betroffenen Fachgesellschaften in einem Jusletter vom 19. Dezember 2022 prägnant zu Wort gemeldet haben.
1 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung und eines Bundesgesetzes betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 24. Oktober 1958.
2 BGE 136 V 279.
3 Riemer-Kafka G et al. Versicherungsmedizinische Gutachten. Ein interdisziplinärer juristisch-medizinischer Leitfaden. 3. Auflage, Stämpfli Verlag (2017), S. 140-173.
4 Jeger J. Die Abklärung der Arbeitsunfähigkeit bei somatischen Gesundheitsstörungen. In: Riemer-Kafka G (Hrsg.). Das indikatorenorientierte Abklärungsverfahren. Luzerner Beiträge zur Rechtswissenschaft, Band 119, Schulthess Verlag (2017), S. 33-77.
5 BGE 145 V 361 E. 3.2.2; Ebner G / Herzog-Zwitter I, Aufgaben von Medizin und Recht: präzisierende Rechtsprechung, Schweizerische Ärztezeitung 2020; 101 (23-24): 734-736.
6 Jeger J., BGE 148 V 49: Ist das Bundesgericht rückfällig geworden?, in: Jusletter 10. Oktober 2022.
7 Cerletti M, Ebner G, Herzog-Zwitter I, Mager R, Rota Fa, Sauvant JD. Stellungnahme der SIM sowie der betroffenen Fachgesellschaften SGVP und SGPP/FMPP zum aktuellen Leiturteil BGE 148 V 49, in: Jusletter 19. Dezember 2022.