Schreiben will gelernt sein

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21755
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(18):66

Publiziert am 03.05.2023

Seit Jahren behandeln wir im Spital die gleichen Patientengruppen mit einem Spektrum gleicher Diagnosen. Manchmal sind es tatsächlich auch die Gleichen, die wegen des Gleichen wiederkommen. Trotzdem wiederholt sich zum Jahresabschluss dasselbe Ritual. Der Finanzchef schaut mich mit einer Mischung aus Unruhe und Mitleid an und teilt mir mit: «Dein CMI ist wieder abgestürzt.» Ich schlage betreten die Augen nieder. Was so klingt wie ein Börsencrash an den Futures-Märkten ist es auch. Aus einem virtuellen Handel mit Hoffnungen und theoretischen Optionen ist die heisse Luft raus. Der Terminator vulgo «DRG Grouper» hat seine Arbeit unbestechlich und erbarmungslos getan. Wäre ich im Staatsexamen nach dem Begriff Case Mix Index, also CMI, gefragt worden, wäre ich glatt durchgefallen. In der Zwischenzeit weiss ich, dass Wohl und Wehe davon abhängt, dass alte, multimorbide internistische Personen von Jahr zu Jahr wie von Zauberhand ein leichteres Fallgewicht haben und damit weniger Anrecht auf medizinische Ressourcen. Soweit die Spielregeln. Und die implizite Aufforderung des Finanzchefs: «Tu was dagegen.»
Ludwig T. Heuss
Prof. Dr. med., Chefarzt Klinik für Innere Medizin, Zollikerberg
Im Schaufenster eines Antiquariats stach mir da kürzlich ein vergilbter Buchtitel in die Augen: «Vom Handwerkszeug des Juristen und von seiner Schriftstellerei».
Niemand wird sich darüber wundern, dass für Juristinnen und Juristen der Umgang mit der Sprache Handwerk bedeutet. Und wie ist das bei den Medizinerinnen und Medizinern? Sollten diese nicht auch darin geübt sein, sich die Sprache als Werkzeug zu Gebote zu machen? Viele von uns würden das wohl weit von sich weisen. Schon zu Schulzeiten interessierten wir uns für Biologie, Mathematik, Naturwissenschaften und überliessen seither das «Geschwafel» den anderen. Man hatte sich bewusst eine knappe und präzise Ausdrucksweise angewöhnt, ja anerzogen. Weg mit schmückendem Beiwerk! Fakten lassen sich auch rumpelig mitteilen, am besten mit Abkürzungen. Vorzugsweise auf Englisch: IBS, IBD, CABG, HFpEF, RNT. Doch spätestens als Unterassistent kommt die schreckliche Erkenntnis: Hilfe Komma ich muss ja schreiben! Wobei das Komma natürlich ebenso fakultativ ist wie alle anderen überkommenen Schreib- und Sprachregeln. Aber das Schreiben, das Verschriftlichen, gehört tatsächlich zum Handwerkszeug der Medizin. Unzählige Austrittsberichte, Verläufe, Fallbeschreibungen und Zuweisungen werden in einem Berufsleben folgen. Und für die CMI-Pflege liegt da wohl der Schlüssel.
Je länger man im Spitalumzug mit dabei ist, desto mehr realisiert man, dass man zunehmend Deutschlehrer mit ein paar medizinischen Zusatzkenntnissen wird. Das Überarbeiten und Korrigieren von Berichten ist die zentrale Tages- oder besser Nachtbeschäftigung geworden. Jeder Austrittsbericht ist die in Prosa gegossene Abschlussrechnung. Vor dreissig Jahren konnte man einen mehrwöchigen Spitalaufenthalt mit Warten auf Pflegeheimplatz noch in einem Limerick abhandeln, heute muss elaboriert werden, auch wenn es wenig zu sagen gäbe. Denn man schreibt den Bericht ja nicht für die Hausärztin, sondern für den Codierer, oder insgeheim eben den erbarmungslosen Terminator. Das sind vielfältige Aufgaben, deren Tarifierung wohl noch ausstehen: neben Rechtschreibung, Syntax, Fall- und Zeitformpflege, Wortwahl, gilt es, die Hauptdiagnosen nach ihrem Aufwand sorgfältig zu ordnen, Symptome unter den richtigen Hauptdiagnosen zusammenzufassen und mittels Labor- und Vitalzeichen im Nebensatz so beiläufig darzustellen, dass die SARS-Kriterien erfüllt und mit der Hypokaliämie auch die richtige DRG angesteuert wird.
Als Teamevent machen wir jetzt übrigens Gruppenübungen in «creative writing».