«Caring Communities»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/2021
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21778
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(2021):74

Publiziert am 17.05.2023

Mehr Markt oder mehr Staat im Gesundheitswesen? Das ist eine Frage, welche Gesundheitspolitik und Gesundheitsökonomie seit vielen Jahren beschäftigt. Die Schweiz hat sich mit der Einführung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung im Jahr 1996 dafür entschieden, für die Gesundheitsversorgung auf eine Mischung aus beiden Prinzipien zu setzen. Es besteht weitgehend Konsens, dass eine reine Form mit «nur Markt» oder «nur Staat» nicht die optimale Lösung wäre. Debattiert wird vor allem über den richtigen Mix. Dabei wird allerdings etwas übersehen.
Die Ausgangsfrage impliziert nämlich, dass es nur diese beiden Pole gibt und man nur zwischen Staat und Markt wählen kann und abwägen muss. Vergessen geht dabei, dass es noch einen dritten Pol für die Übernahme von Aufgaben gibt, nämlich die Zivilgesellschaft. Unter zivilgesellschaftlichem Engagement versteht man die freiwillige, unentgeltliche und zielorientierte Übernahme von Aufgaben durch Bürgerinnen und Bürger ausserhalb der eigenen Familie oder des engen Freundeskreises.
Kürzlich war ich an einer Veranstaltung einer Stiftung, welche sich zum Ziel gesetzt hat, die Freiwilligenarbeit in Gemeinden oder Quartieren zu fördern und zu stärken. Menschen sollen sich gegenseitig helfen, wenn jemand bei der Bewältigung des Alltags Unterstützung braucht. Häufig geht es um gesundheitliche Einschränkungen von alten Menschen, aber nicht nur. Vereinfacht gesagt geht es um eine neue Form der Nachbarschaftshilfe, freiwillig und doch organisiert.
Urs Brügger
Prof. Dr. oec., Redaktor Ökonomie
Neuartig ist, dass solche «sorgenden Gemeinschaften» oder auf Englisch «Caring Communities» nach einem bestimmten Konzept aufgebaut werden. Die erwähnte Stiftung beispielsweise unterstützt den Aufbau von solchen regionalen Organisationen mit Know-how, Infrastruktur und in beschränktem Ausmass auch finanziell. Lokale Gegebenheiten und Bedürfnisse können dabei berücksichtigt werden. Oft wird auch eine Partnerschaft mit der lokalen Politik etabliert. Beispielsweise unterstützen gewisse Gemeinden diese Arbeit finanziell oder sie stellen Infrastruktur zur Verfügung. Manchmal unterstützt auch die Privatwirtschaft.
Solche Modelle bieten Chancen, aber auch Risiken. Eine grosse Chance ist eben der ergänzende Charakter zu Markt und Staat. Caring Communities vereinen die Prinzipien Solidarität und Eigenverantwortung, welche in der Dichotomie Staat versus Markt getrennt sind. Sie sind bürgernah und bedürfnisorientiert. Sie können eine effiziente Ergänzung der bestehenden Angebote sein und diese gleichzeitig entlasten. Allein auf Lösungen von Staat und Markt zu setzen, wird angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen zukünftig nicht ausreichen. Allein auf das zivilgesellschaftliche Engagement zu stützen allerdings genauso wenig: Es braucht vielmehr ein aufeinander bezogenes Tätig-Werden aller Akteure.
Die Erfahrungen der Stiftung haben gezeigt, dass es beim Aufbau von Caring Communities schnell zu bürokratischen Herausforderungen kommen kann. Besteht Steuer- oder Sozialleistungspflicht? Gibt es Haftungsfragen? Zudem entstehen solche Gemeinschaften nicht spontan. Es braucht grosses Engagement von Einzelnen für die Gründung, aber auch für den laufenden Betrieb. An der besagten Veranstaltung wurde diskutiert, dass es schwierig sei, genau dort solche Gemeinschaften aufzubauen, wo es am nötigsten ist. Es gibt Menschen, die es sich schlicht nicht leisten können, unbezahlt für andere etwas zu tun.
Trotz all dieser Herausforderungen bin ich überzeugt, dass Caring Communities ein wichtiger dritter ergänzender Pol neben Staat und Markt sind, der für die nachhaltige Sicherung unserer Sozialsysteme zukünftig eine noch wichtigere Rolle spielen dürfte.