Gnadenlos rieselt das Schicksal

Gnadenlos rieselt das Schicksal

Praxistipp
Ausgabe
2023/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21779
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(18):64-65

Publiziert am 03.05.2023

Arzt-Patienten-Kommunikation Hart schlägt das Schicksal zu, wenn Patientinnen und Patienten eine schlimme Diagnose erhalten. Sie wirbelt ganze Menschenleben auf. Ärztinnen und Ärzte sollten mit Fingerspitzengefühl reagieren – und warten, bis sich der erste Schneesturm im Kopf gelegt hat.
Das Wort «Schicksalsschlag» besteht aus Schicksal und Schlag: Schicksal als etwas Unerwartetes trifft uns ungewollt, macht uns macht-los; der Schlag erreicht uns plötzlich, tut uns Gewalt an und schmerzt.
Schicksalsschläge passieren täglich überall, in kleinerem oder grösserem Ausmass. Kein Mensch, weder Patient noch Arzt, ist davor sicher – doch müssen wir mit diesen Fügungen umgehen.
Ein Unfall oder eine Krankheit kann plötzlich eintreten. Die Tragweite dieses Schicksalsschlags ist zu Beginn meistens noch nicht abschätzbar, zieht sich aber häufig über die Hospitalisation hinaus, weiter zu den nachbehandelnden Personen, in die Familie des Patienten oder der Patientin, zu Freunden, in das Arbeitsumfeld.
Auch den Arzt oder die Ärztin können Schicksalsschläge treffen, sei es im persönlichen Umfeld oder bei der Ausübung der Arbeit: Die ärztliche Tätigkeit schützt nicht vor dem eigenen Schicksal – als Menschen sind wir genauso verwundbar wie jeder andere.
Der Umgang mit Schicksalsschlägen fordert viel Fingerspitzengefühl. Für solche delikaten Momente gibt es kein Patentrezept. Manchen Betroffenen hilft es jedoch, das Ausmass ihrer Situation zu beschreiben, und sich ein Bild als Metapher für das gerade Erlebte vorzustellen.
Sie alle kennen diese kleinen, meist aus Plastik bestehenden Kugeln: Innen mit Kunstschnee gefüllt, wirbeln die Flocken beim Schütteln um eine Figur im Zentrum, welche erst sichtbar wird, wenn sich der Schneesturm nach einem kurzen Moment des Wartens gesetzt hat.
Metaphorisch gesprochen, wird die Schneekugel des Patienten durch eine neue Diagnose heftig durchgeschüttelt. Nehmen wir uns also einen Moment Zeit, um den Schnee sinken zu lassen.
© Luca Bartulović

Wie Zeit und Ruhe helfen

Sich selber Zeit zu nehmen – und dem Gegenüber Zeit zu geben – ist die nötige Voraussetzung, um ein klareres Bild der Situation zu erhalten: Zeit, um sich zu sammeln, um sich Gedanken zu machen und diese klar und einfach weiterzugeben, zu reflektieren, sich mit Kollegen auszutauschen, Fragen zu stellen und zu beantworten und einen (Behandlungs-)Plan zurechtzulegen.
Sie könnten nun einwenden, dass Sie in Ihrem Alltag nicht viel Zeit zur Verfügung haben, und im Notfall zudem schnell gehandelt werden muss.
Das stimmt – immer wieder sind Schicksalsschläge Notfallsituationen. Selten aber muss innerhalb weniger Minuten über das weitere Vorgehen entschieden werden. Häufiger bleibt etwas Zeit. Diese Zeit kann auch mit «Ruhe» umschrieben werden. Sie müssen nicht Stunden am Krankenbett verbringen. Wichtig ist jedoch, sich ein Zeitfenster für diesen Patienten zu nehmen, und ihm in dieser Zeitspanne, die unter Umständen nur wenige Minuten betragen kann, das Gefühl der Ruhe zu vermitteln; in Ruhe ein Gespräch zu führen. Versetzen Sie sich in seine Lage: Was würden Sie sich für sich selber oder Ihre Familienangehörigen in diesem Moment wünschen?
Das Überbringen einer schlechten Nachricht darf zuvor einen Moment des eigenen Sammelns in Anspruch nehmen. In der Hektik, im Affekt werden schnell Dinge gesagt, die vielleicht falsch verstanden und nicht mehr zurückgenommen werden können. Die Nerven des Patienten, der Patientin (und übrigens auch der Angehörigen) sind in solchen Situationen sehr angespannt – ein falsches Wort oder eine unbedachte Äusserung können das «Zünglein an der Waage» sein, welches über den weiteren gemeinsamen Weg von Patient und Arzt bestimmen kann.

Drei Gedanken zum Schluss

1. Setzen Sie sich zum Patienten ans Bett, oder gemeinsam an einen Tisch, sodass ein Gespräch auf Augenhöhe stattfinden kann. Von Arzt zu Patient, oder besser: von Mensch zu Mensch.
2. Ziehen Sie die Angehörigen mit ins Gespräch ein: Die Angehörigen «gehören» dem Patienten «an» und müssen sein neues Schicksal von nun an mittragen.
3. Reden Sie in der Sprache Ihrer Patientinnen und Patienten: Die wenigsten von ihnen sprechen Griechisch oder Latein, und sind nicht bewandert in medizinischer Fachsprache. Begriffe, die für uns zum Alltag gehören, sind vielen Menschen nicht geläufig. Sie laufen Gefahr, dadurch falsch oder gar nicht verstanden zu werden.
Dr. med. Sonja Feichter
Stationsoberärztin am Universitären Bauchzentrum Clarunis des St. Claraspitals in Basel und des Universitätsspitals Basel.