TARPSY 5.0 bildet komplexe Fälle umfassender ab

Aktuell
Ausgabe
2023/2021
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21781
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(2021):32-34

Affiliations
Dr. phil., Experte, Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 17.05.2023

Multimorbidität TARPSY, die schweizweit einheitliche Tarifstruktur für die Leistungsvergütung in der stationären Psychiatrie, verwendet neu eine Schweregradlogik, die medizinisch komplexe Behandlungsfälle mit mehreren komplizierenden Diagnosen genauer abbildet. Ausserdem wird nicht mehr jährlich, sondern nur noch alle zwei Jahre eine neue Tarifversion entwickelt.
Wegen der Auswirkungen, welche die Corona-Pandemie auf die Kosten- und Leistungsdaten der Kliniken hatte, wurde die Entwicklung einer neuen TARPSY-Version für ein Jahr ausgesetzt. Inzwischen hat die SwissDRG AG eine neue Version vorgelegt. Die Genehmigung durch den Bundesrat vorausgesetzt, tritt TARPSY 5.0 ab dem 1. Januar 2024 in Kraft. Die wichtigste Neuerung stellt die Anwendung einer Schweregradlogik dar, die den kumulativen Effekt mehrerer Nebendiagnosen im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung erfasst. Die von der SwissDRG AG verwendete Methodik wird im Folgenden kurz beschrieben.

Multimorbidität genauer erfassen

Eine leistungsgerechte Vergütung bildet die Grundlage für ein faires Tarifsystem. Deshalb werden bei der Entwicklung einer Tarifstruktur wie TARPSY die durch die Hauptdiagnose definierten Basis-Kostengruppen weiter ausdifferenziert. Dies geschieht auf der Grundlage der Unterschiede zwischen den Behandlungsfällen in Bezug auf ihre Komplexität und Kostenintensität. Der dazu notwendige Leistungsbezug kann einerseits direkt über die Abbildung der erbrachten Leistungen durch CHOP-Kodes, andererseits indirekt über die Erfassung des Schweregrades eines Behandlungsfalles erfolgen. Bisher wurde der Schweregrad einer Behandlungsepisode in TARPSY über die Auswertung von Fallinformationen – insbesondere zur Symptomschwere (HoNOS/CA), zu einzelnen komplizierenden Haupt- und Nebendiagnosen sowie zur motorischen und kognitiven Funktionsfähigkeit – erfasst. Das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Gesundheitsprobleme macht die medizinische Behandlung in der Regel komplexer und geht mit einem erhöhten Ressourcenverbrauch einher. In ihren verschiedenen Stellungnahmen zu früheren Versionen von TARPSY hatten die FMH und ihre Fachgesellschaften deshalb wiederholt darauf hingewiesen, dass die kumulative Wirkung von psychiatrischen und somatischen Nebendiagnosen auf den Ressourcenverbrauch in der Tarifstruktur besser abgebildet werden müssten.
Im TARPSY-Grouper werden die DCR-Werte je Diagnose und PCG spezifisch ausgewiesen.
© Somjring Chuankul / Dreamstime

SwissDRG als Ausgangspunkt

Seit Beginn der Einführung von SwissDRG, dem Tarifsystem für die Vergütung von Leistungen in der Akutsomatik, im Jahr 2012 wird der patientenbezogene Gesamtschweregrad (Patient Clinical Complexity Level, PCCL) verwendet, um der Multimorbidität eines Behandlungsfalls Rechnung zu tragen [1]. Die SwissDRG AG hat sich bei der Entwicklung einer Schweregradlogik für die Psychiatrie an dieser bestehenden Methodik orientiert. Sie hat sich aber auch von neuen Ansätzen inspirieren lassen, wie sie in Australien für die Akutsomatik entwickelt wurden [2,3]. Die Grundidee zur Bestimmung des Schweregrads eines Behandlungsfalls ist bei den verschiedenen Ansätzen jeweils dieselbe: Zunächst werden die Schweregrade für einzelne Diagnosen bestimmt; in einem weiteren Schritt wird auf dieser Grundlage der aggregierte Schweregrad für eine Behandlungsepisode ermittelt. Unterschiede ergeben sich bei der jeweiligen Operationalisierung, das heisst beim konkreten Vorgehen zur Bestimmung der Schweregrade für die einzelnen Diagnosen und bei der Aggregation der Schweregrade aller relevanten Diagnosen eines Behandlungsfalls. Die von der SwissDRG AG angewendete Methodik ist komplex und beinhaltet wiederholte Überprüfungen von Diagnosen sowie verschiedene Aggregationsschritte [4].

Schweregrad einer Diagnose

In TARPSY 5.0 wird der Schweregrad einer Diagnose über den Diagnosis Cost Ratio (DCR) erfasst. Dadurch können kostentreibende Diagnosen identifiziert werden. Der DCR beschreibt die durchschnittliche Abweichung der Tageskosten aller Fälle, welche die jeweilige Diagnose enthalten, vom Gesamtdurchschnitt [5]. Diese Betrachtung geschieht jeweils für jede der neun Basis-PCGs (Psychiatric Cost Groups) gesondert. Dies bedeutet, dass der Schweregrad einer Diagnose je nach Basis-PCG unterschiedlich hoch ausfallen kann. Die ermittelten DCR-Rohwerte werden schliesslich so transformiert, dass ein ganzzahliger Wertebereich von 0 (kein Schweregrad) bis 5 (maximale Komplexität) resultiert. Aus dem Definitionshandbuch TARPSY 5.0 kann lediglich entnommen werden, ob eine Diagnose einen oder mehrere Werte grösser als 0 aufweist [5]. Eine Zuordnung, auf welche Basis-PCGs sich die einzelnen Werte genau beziehen, ist nicht möglich. Die DCR-Werte je Diagnose und PCG werden jedoch im TARPSY-Grouper ausgewiesen [6].

Schweregrad eines Behandlungsfalls

Um den letztlich interessierenden Schweregrad eines Behandlungsfalls (Patient Severity Level, PSL) zu erhalten, müssen die verschiedenen DCR-Werte aller in einer Behandlungsepisode vorhandenen Diagnosen aggregiert werden. Hierbei wird vor der Aggregation in einem rekursiven Ausschlussverfahren für jeden einzelnen Behandlungsfall geprüft, ob eine Diagnose gegebenenfalls ausgeschlossen werden muss, weil sie sich inhaltlich zu stark mit der Hauptdiagnose oder anderen vorhandenen Nebendiagnosen deckt (bedingter Ausschluss). Daneben gibt es auch eine Liste von Diagnosen, die von vornherein immer ausgeschlossen werden, weil sie beispielsweise zu unspezifisch sind oder zu Fehlanreizen führen könnten (unbedingter Ausschluss). Die FMH hat die SwissDRG AG darum gebeten, diese Liste zu veröffentlichen. Die SwissDRG AG hat sich bedauerlicherweise dagegen entschieden. Ähnlich wie in der Akutsomatik wird schliesslich eine Aggregationsformel verwendet, bei der die einzelnen DCR-Werte nach ihrer Grösse geordnet und mit abnehmender Gewichtung Eingang finden. Die resultierenden PSL-Werte liegen zwischen 100 und 200 und werden in fünf Bereiche unterteilt (Tab. 1). Im Grouper sind insbesondere die Bereiche «erhöhter PSL» sowie «stark erhöhter» und «äusserst stark erhöhter PSL» relevant.
Tabelle 1: Wertebereiche des PSL
Patientenbezogener Schweregrad (Patient Severity Level)
PSL < 110Kein erhöhter PSL
110 ≤ PSL <120Leicht erhöhter PSL
120 ≤ PSL <130Erhöhter PSL
130 ≤ PSL <140Stark erhöhter PSL
140 ≤ PSLÄusserst stark erhöhter PSL
Quelle: SwissDRG AG. 2023 TARPSY 5.0 Definitionshandbuch Katalogversion (2021/2024), S. 14.

Neue Schweregradlogik zeigt Wirkung

Die neue Schweregradlogik hat bereits an verschiedenen Stellen in der Tarifstruktur Eingang gefunden. Konkret spielt der PSL-Wert in acht der neun Basis-PCGs als Kostentrenner eine Rolle. Insgesamt kommt er bei zehn PCG-Splits im TARPSY-Grouper vor [5]. Als Illustration kann die Basis-PCG TP21 «Psychische oder Verhaltensstörungen durch Alkohol, andere Drogen oder andere Substanzen» dienen (Abb. 1). Dort wird ein Behandlungsfall durch den Grouper der höchsten Vergütungsstufe TP21A zugewiesen, wenn er entweder jünger als 18 Jahre ist oder einen PSL-Wert von 135 und mehr aufweist. Ebenso ist ein PSL-Wert von 125 und mehr eines der Kriterien, die zu einer Einstufung in die PCG TP21B anstelle von TP21C führen. Aus fachgesellschaftlicher Sicht gilt es, für zukünftige TARPSY-Versionen abzuklären, ob insbesondere bei den komplexeren und höher vergüteten PCGs durch die Anwendung der neuen Schweregradlogik noch weitere Verfeinerungen möglich sind.
Abbildung 1: Beispiel für PSL-Wert als Splitkriterium. Quelle: SwissDRG AG. 2023. TARPSY 5.0 Definitionshandbuch Katalogversion (2021/2024), S. 18; best. = bestimmter; kompl. = komplizierender.

Leistungsbezug weiter verbessern

Obschon die neue Schweregradlogik einen wichtigen Fortschritt bei der Erfassung der Multimorbidität eines psychiatrischen Behandlungsfalls markiert, stellt sie lediglich einen indirekten Leistungsbezug dar. Gemäss Angaben der SwissDRG AG gibt es einen hohen Anteil an Fällen ohne CHOP-basierten Leistungsbezug [7]. Auch mit der neuen Schweregradlogik ist es wichtig, dass sowohl die erbrachten Leistungen als auch die damit verbundenen Kosten für jeden Behandlungsfall so spezifisch wie möglich erfasst werden. Darüber hinaus sollten die bestehenden psychiatriespezifischen CHOP-Kodes auf ihr Harmonisierungs- und Vereinfachungspotenzial hin überprüft werden. Dadurch könnte die Motivation der Kliniken gesteigert werden, diese Kodes auch zu verwenden. Für Leistungen wiederum, die gegenwärtig ungenügend vergütet werden, können weitere Ausdifferenzierungen bei den PCGs oder neue CHOP-Kodes beantragt werden. Die Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife der FMH unterstützt die Fachgesellschaften auch dieses Jahr bei der Ausarbeitung und Eingabe entsprechender Anträge bei der SwissDRG AG (TARPSY) oder dem BFS (CHOP). Hierbei ist zu beachten, dass das TARPSY-Antragsverfahren ab diesem Jahr nur noch alle zwei Jahre durchgeführt wird.
tarife.spital[at]fmh.ch
1 Holzer B. Fallschwere und SwissDRG. Schweizerische Ärztezeitung. 2013;94(24):913-915.
2 Australian Consortium for Classification Development. 2014. Review of the AR-DRG Classification Case Complexity Process: Final Report.
3 Dimitropoulos V, Yeend T, Zhou Q, McAlister S, et al. A new clinical complexity model for the Australian Refined Diagnosis Related Groups. Health Policy. 2019;123(11):1049-1052.
4 SwissDRG AG. 2022. Technischer Bericht: TARPSY Patient Severity Level (T-PSL) Logik.
5 SwissDRG AG. 2023. Definitionshandbuch TARPSY 5.0 Katalogversion (2021/2024).