Von Sinn und Unsinn der Verwendung eines Diagnosecodes

Von Sinn und Unsinn der Verwendung eines Diagnosecodes

Leitartikel
Ausgabe
2023/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21805
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(18):24-25

Publiziert am 03.05.2023

Projekt SCD Aufgrund des Grundlagenberichts des Bundesamt für Statistik zur Klassifikation der Diagnosen im ambulanten Bereich hat die FMH das Projekt SCD (Swiss classification groups of disease and related health problems) gestartet. Der Tessinercode genügt den gesetzlichen Vorgaben nicht mehr.
Mit der Einführung der Tarifstruktur TARMED für ambulante ärztliche Behandlungen im Jahr 2004 haben die Vertragspartner Santésuisse und FMH gemeinsam vereinbart, dass grundsätzlich jede Rechnung einen Diagnosecode enthalten muss. Als Klassifikationssystem haben sie den Tessinercode [1] festgelegt. Das Bundesamt für Statistik (BfS) hat einen Grundlagenbericht [2] zur Klassifikation der Diagnosen und Prozeduren in der ambulanten Gesundheitsversorgung publiziert. Hintergrund dieses Berichts ist ein Auftrag des Bundesrates zur Analyse der Codierungselemente von ambulanten Patientendaten. Dieser Bericht soll ein Schritt auf dem Weg zur Umsetzung des Artikels 59abis der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) sein, der sich auf Artikel 42 Abs. 3 und 3bis des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) bezieht. Mit dem nicht fundierten Detaillierungsgrund und der fehlenden internationalen Vergleichbarkeit (kein Mapping auf andere Codesysteme) des Tessinercode, wird dies mit dem Tessinercode nicht mehr umsetzbar sein.
Urs Stoffel
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Ambulante Versorgung und Tarife

Gesetzliche Grundlagen

Das Krankenversicherungsgesetz hält fest, dass medizinische Leistungserbringer gemäss Art. 42 Abs. 3 KVG dem Schuldner, also dem Patienten oder dem Krankenversicherer, eine detaillierte und verständliche Rechnung zuzustellen haben. Obwohl der Arzt von Gesetzes wegen dazu verpflichtet ist, dem Krankenversicherer Patientendaten zu übermitteln, ist die Datenweitergabe im Rahmen der Rechnungsstellung nur dann rechtmässig, wenn der Verhältnismässigkeits- sowie der Zweckbindungsgrundsatz eingehalten werden. Die Auskunftspflicht des Leistungserbringers nach Art. 42 Abs. 3 und 4 KVG steht somit in einem Spannungsverhältnis zu den Grundrechten der Patienten beziehungsweise Versicherten. Im Zentrum steht hier der Grundrechtsschutz vor Missbrauch von persönlichen Daten (Datenschutz). In Art. 59abis KVV sieht der Verordnungsgeber vor, dass das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) für den ambulanten Bereich ausführende Bestimmungen zur Erhebung, Bearbeitung und Weitergabe der Diagnosen und Prozeduren unter Wahrung des Prinzips der Verhältnismässigkeit zu erlassen habe. In diesem Kontext stellt sich somit die zentrale Frage, in welchem Umfang und Detaillierungsgrad Daten der versicherten Person an den Krankenversicherer weitergeleitet werden dürfen. Das datenschutzrechtliche Prinzip der Verhältnismässigkeit gebietet, dass der Leistungserbringer dem Krankenversicherer nur diejenigen medizinischen Daten des Patienten weiterleitet, die objektiv geeignet und erforderlich sind, damit der Krankenversicherer eine Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäss Art. 56 KVG vornehmen kann.
Ein Diagnosecode stellt sicher, dass der Datenschutz eingehalten wird.
© Kaffeebart / Unsplash

Das Projekt SCD der FMH

Das BfS verlangt für statistische Zwecke mehr Daten, die anonymisiert an das BfS weiterzuleiten sind. Der Tessinercode reicht hierfür nicht aus. Die FMH schlägt aus Effizienzgründen einen neuen Code vor und möchte für die Darlegung von Morbiditätsstatistiken, Abschätzung der ambulanten Kosten der verschiedenen Krankheiten und Versorgungsforschung ein verlässlicheres und international kompatibles Codiersystem einsetzen. Es geht hier also nicht um vorauseilenden Gehorsam, sondern ganz im Gegenteil darum, proaktiv eine sinnvolle, adäquate und im Praxisalltag umsetzbare Lösung für die gesetzlichen Vorgaben zur Codierung von Diagnosen anzustreben. Die FMH hat aus diesen Gründen im Herbst 2021 das Projekt SCD (Swiss classification groups of disease and related health problems) gestartet. Das vorerst rein FMH-interne Projekt hat in den letzten Monaten gemeinsam mit den medizinischen Fachgesellschaften fachspezifische Diagnosesets – auf Basis der beiden international weitverbreiteten Codiersystemen ICD-10 und in der Grundversorgung auf ICPC-2 – definiert, mit denen rund 80 bis 90% des jeweiligen Behandlungsspektrums abgebildet werden. Es zeigte sich, dass dafür lediglich 15 bis 25 Diagnosen pro Fachgebiet notwendig sind. Die Menge an Diagnosen ist abhängig von der Fachdisziplin – Grundversorgende benötigen deutlich mehr Diagnosen als andere Fachdisziplinen. Um die restlichen 10 bis 20% des Behandlungsspektrum abbilden zu können, wären je nach Fachgebiet über 200 zusätzliche Diagnosen notwendig. Der Aufwand wäre enorm, der Informationsgewinn hingegen minimal. Hier braucht es zur Sicherung der Qualität und aus Gründen der Verhältnismässigkeit und Praktikabilität Mut zur Lücke. Deshalb soll zusätzlich zu diesen ICD-Diagnosen pro Fachgebiet noch ein Eintrag «nur an den Vertrauensarzt» sowie «Diagnose/Problem nicht im fachgruppenspezifischen Sample enthalten» ergänzt werden. ICD-10 ist ein bis zu fünfstelliger Code. Damit lassen sich Krankheiten detailliert und spezifisch definieren. Das Projekt SCD wird die fachspezifischen Diagnosesets auf drei Stellen begrenzen (ein Buchstabe beziehungsweise Kapitel gefolgt von zwei Zahlen). Bei den Grundversorgern, die durch die Komplexität ihrer Arbeit besonders gefordert sind, bewegt sich der Codier-Aufwand bezüglich der Diagnose im Rahmen von maximal 30 Sekunden pro Konsultation. Die Erfassung der Diagnosen erfolgt auf Rechnungsebene (und damit nicht auf Tarifpositionsebene).

Der Datenschutz ist zentral

Zentrales Anliegen des Projekts SCD ist die Einhaltung des Datenschutzes (siehe auch die gesetzlichen Vorgaben weiter oben). Besonders für die heiklen und stigmatisierenden Diagnosen (zum Beispiel in der Psychiatrie) muss der Datenschutz 100% gewährleistet sein. Die FMH hat sich deshalb vertieft mit der Übermittlung der Diagnosen an die Versicherer und an die Behörden befasst. In Anlehnung an das DRG-System, bei dem dieses Datenschutzproblem mit einer getrennten Übermittlung der Rechnungsdaten und der Diagnosen zuhanden des Vertrauensarztes bereits gelöst wurde, hat die FMH ebenfalls einen technischen Prozess entwickelt, welcher diese hohen Anforderungen an den Datenschutz auch im praxisambulanten Bereich erfüllt. Nach der internen Prüfung durch den Datenschutzbeauftragten der FMH werden wir nun auch mit dem eidgenössischen Datenschützer unsere Lösung prüfen.

Ziele und Vorteile des Projekts SCD

– Sicherlich ist eines der wichtigen Ziele die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben und Verordnungen zur Bekanntgabe der Diagnosen. Dies unter dem Aspekt, den administrativen Aufwand für die Mitglieder der FMH tief zu halten und die Verhältnismässigkeit zu wahren.
– Der Codier-Aufwand für die Mitglieder der FMH wird gegenüber dem vollen Einsatz von ICD-10 massiv reduziert. Durch die Mitwirkung der ärztlichen Fachgesellschaften bei der Erstellung der fachspezifischen Diagnosesets ist die Bereitschaft, diesen korrekt anzuwenden, vorhanden. Durch die einfache und administrativarme Lösung wird die Daten- respektive Codierqualität sichergestellt.
– Mit der getrennten Rechnungs- und Diagnoseübermittlung («Privacy by Design»-Grundsatz) an die Krankenversicherung sind die zuständigen Stellen unter Wahrung des Datenschutzes in der Lage, die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungen vorzunehmen.
– Die notwendigen Daten werden anonymisiert über die MAS-Erhebung an das BfS geleitet. Gleichzeitig können die erforderlichen Daten für die Rechnungsstellung an den Versicherer generiert und somit die Anforderung des KVG für eine verständliche Rechnungsstellung erfüllt werden. Mit dem von uns avisierten Datenübermittlungssystem lässt sich auch das im Parlament angestossene System der E-Rechnung datenschutzkonform lösen.
Wir werden in den nächsten Wochen das Projekt weiterentwickeln und wieder darüber berichten.