«Wir brauchen dringend mehr Forschung»

Wissen
Ausgabe
2023/2021
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21811
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(2021):70-71

Publiziert am 17.05.2023

Psychopharmaka Viele Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen nehmen ein Leben lang Medikamente. Umso wichtiger, dass die Mittel sicher sind und keine negativen Wechselwirkungen haben – mit anderen Medikamenten, aber auch mit Nahrungsergänzungsmitteln. Ein Gespräch mit dem Psychiater Gregor Hasler über Off-Label-Use, Vitamine und die Komplexität des Gehirns.
Gregor Hasler, Sie schreiben in der Einladung zur Jahrestagung vom Juni (vgl. Kasten), die Arzneimittelsicherheit werde auch in der Psychiatrie immer wichtiger. Warum?
Die Sicherheit von Psychopharmaka ist darum so wichtig, weil es die am häufigsten verschriebene Medikamentengruppe ist. Nicht selten nehmen Patientinnen und Patienten diese ein Leben lang ein, weshalb Langzeitwirkungen umso mehr zu beachten sind. Ausserdem ist gerade in der Schweiz der Off-Label-Gebrauch von Psychopharmaka sehr hoch. In psychiatrischen Kliniken liegt er bei mehr als 50%. Das hat unter anderem damit zu tun, dass etwa Kinder und ältere Menschen oft nicht in klinische Studien einbezogen werden, die Medikamente später aber auch für sie genutzt werden. Zudem ist die Schweiz ein sehr kleiner Markt. Pharmafirmen beantragen die Erweiterung von Indikationen oft für den europäischen und den US-Markt, nicht aber zusätzlich auch noch für die Schweiz. Es gibt Guidelines und eine eingespielte Off-Label-Praxis im Bereich Psychopharmaka. Trotzdem gilt es, der Arzneimittelsicherheit besondere Beachtung zu schenken. Zudem gibt es Entwicklungen, die dazu führen, dass die Arzneimittelsicherheit noch wichtiger wird.

Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (SGAMSP)

Die Jahrestagung der SGAMSP findet am Donnerstag, 15. Juni 2023 (12.00–17.30 Uhr) an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich statt. Thema: Pharmakotherapie im Graubereich: Off-label, Polypharmazie und Nahrungsergänzungsmittel.
Weitere Informationen: sgamsp.ch
Welche Entwicklungen sind das?
Einerseits nimmt die Polypharmazie zu. Andererseits kommen neue Substanzen auf den Markt oder werden neu als Pharmakotherapie eingesetzt, etwa Ketamin, Psychedelika und Phytotherapeutika. Damit steigt das Risiko von Interaktionen zwischen Wirkstoffen. Da besteht Forschungsbedarf. Auch das Zusammenspiel von Psychopharmaka und der Psychotherapie muss besser erforscht werden. Grundsätzlich ist es aber natürlich erfreulich, dass wir neue Wirkstoffe zur Verfügung haben, die weniger Nebenwirkungen haben. Jetzt müssen wir einfach aufpassen, dass diese deswegen nicht sorgloser verschrieben werden.
Werden zu viele Psychopharmaka verschrieben?
Nicht insgesamt zu viele, aber es findet eine Fehlnutzung statt. So erhalten etwa nur rund die Hälfte aller Menschen, die von einer Depression betroffen sind, eine medikamentöse Therapie. Umgekehrt werden insbesondere in Alters- und Pflegeheimen zu viele Antipsychotika und sedierende Medikamente verschrieben. Und die Gefahr besteht, dass der Fachkräftemangel in der Pflege dies noch verschärft.
Die Psychiaterinnen und Psychiater verschreiben in den Heimen zu viele Psychopharmaka?
Mehr als die Hälfte aller Psychopharmaka werden – in der Schweiz wie auch in anderen Ländern – nicht von Psychiaterinnen und Psychiatern verschrieben. Sondern von Hausärzten und anderen Fachärztinnen [1]. Man kann das positiv sehen, indem sich diese ebenfalls an der psychiatrischen Versorgung beteiligen. Andererseits zeigen die Zahlen, dass Hausärztinnen und Hausärzte oft dieselben, herkömmlichen Medikamente verschreiben. Neuere Substanzen, mit bisweilen weniger Nebenwirkungen, sind ihnen weniger vertraut. Insofern wäre es oft sinnvoll, uns Psychiater beizuziehen, wenn es um Medikamente geht – und vermehrt Weiterbildungen etwa unserer Fachgesellschaft zu besuchen. Wichtig ist, Psychopharmaka nicht vorschnell zu verschreiben und Optionen wie eine Psychotherapie immer mitzudenken.
Welchen Stellenwert haben nichtmedikamentöse Therapien bei psychischen Erkrankungen?
Einen sehr hohen. Neben der Psychotherapie gibt es für therapieresistente Depressionen die Elektrokrampftherapie, die sehr wirksam ist. Auch die repetitive transkranielle Magnetstimulation zeigt eine gute Wirksamkeit und Verträglichkeit bei Depressionen.
Arzneimittelsicherheit ist ein grosses Thema in der Psychiatrie.
© Cristi Ursea / Unsplash
Die Jahrestagung der SGAMSP steht unter dem Titel «Pharmakotherapie im Graubereich». Was ist damit gemeint?
Neben dem Off-Label-Gebrauch von Medikamenten muss sich unsere Fachgesellschaft zunehmend mit weiteren Aspekten der nicht regulierten Pharmakotherapie beschäftigen. Ein grosses Thema sind dabei Nahrungsergänzungsmittel. Vitamine und beispielsweise Omega-3 haben einen Boom erlebt. Dabei kann es zu Interaktionen mit Psychopharmaka kommen. Gleichzeitig wird oft behauptet, Nahrungsergänzungsmittel seien präventiv oder gar therapeutisch etwa gegen Depressionen wirksam. Neuere Studien [2] zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Bisweilen erhöhen solche Nahrungsergänzungen sogar das Risiko für eine Depression. Ausserdem sind nur schon die Tests zur Bestimmung eines Vitaminspiegels sehr unzuverlässig und sollten dringend reguliert werden. Unsere Fachgesellschaft will in diesem Graubereich Aufklärung betreiben.
Kommen wir zurück zu den eigentlichen Psychopharmaka. Inwiefern braucht es Forschung und neue Wirkstoffe?
Dringend. Die heutigen Antidepressiva zeigen bei einem Drittel der Betroffenen keine Wirkung. Und weil wir nur wenige Wirkmechanismen von Medikamenten kennen, entstehen Resistenzen. Wir brauchen auch mehr Grundlagenforschung, um das komplexe Organ Hirn besser zu verstehen. Weil hier so viele Fragen offen sind und die Forschung so aufwendig ist, haben sich viele grosse Pharmaunternehmen in den letzten Jahren aus dem Bereich Psychopharmaka zurückgezogen. Wenn derzeit nach einer längeren Pause wieder einige neue Wirkstoffe auf den Markt kommen, stammen diese mehrheitlich von kleinen Unternehmen und Start-ups.
Inwiefern geht die Psychiatrie wie andere Bereiche der Medizin in Richtung personalisierte Behandlung?
Davon sind wir leider noch weit entfernt. Man hoffte, dass Biomarker aus Genetik, Bildgebung oder Bluttests mehr darüber verraten, welche Psychopharmaka für eine bestimmte Person wirksam sind. Bisher ist das nicht gelungen. Das Gehirn von psychisch kranken Menschen sieht in der aktuell verfügbaren Bildgebung erstaunlich normal aus. Daher sind wir in der Psychiatrie immer noch bei der Diagnostik über Symptome. Ich denke, das wird sich leider nicht so schnell ändern.
Prof. Dr. med. Gregor Hasler
Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg. Er forscht unter anderem mittels Bildgebung zu psychischen Störungen. Er ist Chefarzt am Freiburger Netzwerk für Psychische Gesundheit und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie.
1 www.obsan.admin.ch/de/publikationen/2022-psychopharmaka-der-schweiz
2 jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2787320