Auf den Punkt

Erkrankte erhalten eine Stimme

News
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21816
Schweiz Ärzteztg. 2023;(19):8-9

Publiziert am 10.05.2023

Wissenschaft Wer jahrelang mit einer Krankheit lebt, kennt die typischen Beschwerden, aber auch die Mittel, die sie lindern. Dieses wertvolle Wissen wird in klinischen Studien in der Schweiz jedoch noch zu oft vernachlässigt. Eine neue nationale Ausbildung, die im Mai beginnt, will diese Lücke schliessen.
Patientinnen und Patienten entwickeln mit der Zeit eine Expertise für ihre Erkrankung. Und diese soll in der klinischen Forschung besser berücksichtigt werden, um neue Therapien zu entwickeln. Das ist das Ziel des schweizweit einzigartigen Kurses «EUPATI Schweiz Patientenexpertin/-experte» der sich speziell an Menschen richtet, die eine Erkrankung haben. Die Ausbildung, die auf europäischer Ebene bereits existiert, wurde vom Verein EUPATI CH Schweiz aufgebaut.
Recht, Ethik, Kommunikation: Zwischen Mai und Dezember 2023 besuchen die Teilnehmenden thematische Module, die ihnen Schlüssel zum Verständnis der Forschung und zum Austausch mit der Ärzteschaft über die entscheidenden Aspekte einer klinischen Studie vermitteln. Dabei geht es auch darum, ihre eigene Sichtweise einzubringen: die der betroffenen Personen.
Die Ausgebildeten sollen sich im Rahmen von klinischen Studien aktiv an der Erforschung und Entwicklung von Behandlungsmethoden beteiligen können. «Die Patienten wissen am besten, wo die Lücken sind», sagt Ivo Schauwecker, Präsident von EUPATI CH Schweiz. Die Perspektiven der Industrie und der Forschenden reichen oft nicht aus, um die besten Medikamente zu entwickeln. Der Onkologe Stephan Schobinger, Vorstandsmitglied von EUPATI CH Schweiz und Mitbegründer des Kurses, stellt selbst fest: «Wir Ärzte schauen eher auf die Statistik als auf die Lebensqualität. Wir wollen Behandlungen, die das Leben um ein paar Jahre verlängern, aber nicht unbedingt das Wohlbefinden verbessern.» Seiner Meinung nach wird dieser Kurs einen notwendigen Perspektivwechsel herbeiführen.
Erkrankte werden gehört: Die neue Ausbildung soll einen notwendigen Perspektivwechsel herbeiführen.
© aboodi vesakaran / Unspalsh

Interessengruppen auf gleicher Augenhöhe

Der Lehrplan wurde in Zusammenarbeit mit dem Departement für Klinische Forschung (DKF) der Universität Basel entwickelt. Patientinnen und Patienten wurden in den Prozess einbezogen, damit der Kurs für alle verständlich ist, sagte Barbara Peters, Kursleiterin und Leiterin Aus- und Weiterbildung am DKF. So können die Betroffenen gut vorbereitet mit der Industrie und der Forschung in einen Dialog treten. «Das Ziel ist es, echte Partnerschaften zu schaffen», ergänzt Chantal Britt, Präsidentin des Vereins Long Covid Schweiz und Vorstandsmitglied von EUPATI CH Schweiz.
Als zertifizierte «Experten» haben die Absolventen des Kurses die Möglichkeit, in Forschungsteams oder Forschungsförderungsinstitutionen wie dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) mitzuarbeiten, um die Patientensicht zu vertreten. Der Kurs ist also ein Mittel, um Patientenvertretende mit der Forschung und der medizinischen Welt zu vernetzen. Die Schweiz sei in dieser Hinsicht im Rückstand, bedauert Chantal Britt. Einige Landesteile seien jedoch aktiver, setzt die Patientenvertreterin fort: «In der Westschweiz gibt es viele Programme zur Patientenbeteiligung, wie zum Beispiel am Universitätsspital Genf.»
Laut Barbara Peters hat ein 2021 gestartetes Programm des SNF den Impuls gegeben, das aufzeigen soll, wie Patienten in klinische Studien einbezogen werden können. «Davor gab es wenig Druck auf nationaler Ebene.» Das Programm habe gezeigt, dass Partnerschaften besonders wertvoll für chronische, seltene und wenig bekannte Krankheiten wie Long COVID sind. Der in etwas weniger als einem Jahr ausgearbeitete Kurs basiert auf dem europäischen EUPATI-Kurs und den Erfahrungen anderer Länder. Es gibt keine Voraussetzungen oder Prüfungen. «Der Kurs muss für jeden zugänglich sein. Man muss ein Interesse daran haben, die Patientensicht zu vertreten und selbst betroffen sein», sagt Barbara Peters. Zur Ausbildung haben sich 23 Personen angemeldet, darunter 20 Frauen. Etwa zwei Drittel haben bereits Erfahrung mit der Beteiligung an der Forschung und einige vertreten eine Patientenorganisation.

Aus der Opferrolle herauskommen

Bisher gibt es die Ausbildung nur in der Deutschschweiz, aber die Unterlagen sind auch auf Französisch und Italienisch erhältlich. «Unser Wunsch ist es, dass andere Institutionen den Staffelstab übernehmen und den Kurs auch in den anderen Sprachregionen anbieten», sagt Barbara Peters. Die Kosten für die erste Ausgabe belaufen sich auf 67 ​000 Franken. Dank der Unterstützung des SNF und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zahlt jeder Teilnehmer nur 600 Franken.
Für Chantal Britt, die den europäischen Kurs absolviert hat, ist der Mehrwert enorm: «Als Patientin lernt man die Sprache der Forschung und versteht die Tools. So kommt man aus der Opferrolle heraus und kann einen Impact auf seine eigene Krankheit haben.» Der Arzt Stephan Schobinger stimmt dem zu: «Das Patient Empowerment macht die Arzt-Patient-Beziehung interessant. Der Patient muss den finalen Entscheid fällen.»