Subtile Einflussnahme bei der Gesundheit

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21818
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(22):82

Publiziert am 31.05.2023

Sicherlich ist bei mir eine gewisse Voreingenommenheit im Spiel, doch mich verblüfft, wie sehr Psychologie und Emotionen in der medizinischen und «paramedizinischen» Literatur an Bedeutung gewinnen. Hiermit meine ich nicht die zahlreichen Werke zu Themen wie Lebensqualität, Paarkonflikten, Schüchternheit oder Ähnlichem. Vielmehr spreche ich von den vielen Neuerscheinungen an der Schnittstelle zwischen Verhaltenswissenschaften und Psychologie. Sie zielen darauf ab, Kampagnen im Bereich der öffentlichen Gesundheit wirksamer zu gestalten und Patientinnen und Patienten oder die Gesamtbevölkerung zu einem gesünderen Verhalten zu motivieren – zu ihrem eigenen Nutzen, aber auch für den Planeten. Ein Buch fragt beispielsweise, wie öffentliches Handeln sich an der menschlichen Psychologie ausrichten lässt [1].
Sogenannte «Healthy Nudges», die ebenfalls verhaltenspsychologisch begründet sind und gern mit dem Marketing flirten, sollen ohne Ge- oder Verbote, durch subtile Veränderungen in der «Entscheidungsarchitektur», der Umgebung oder der Art, wie Informationen präsentiert werden, den Anstoss zu einer gesundheitsförderlichen Entscheidung geben [2]. Sie werden heute in der Gesundheitspolitik umfassend eingesetzt und von der Weltgesundheitsorganisation unterstützt. Beispielsweise ordnen Kantinen ihre Gerichte so an, dass die gesündesten Gerichte zuerst präsentiert werden, bei einer Epidemie wird die erwünschte soziale Distanz mit Bodenmarkierungen angezeigt und Computerprogramme für Verschreibungen werden so voreingestellt, dass weniger Antibiotika verbraucht oder mehr Generika verschrieben werden. Diese und viele andere «Nudges» sind Teil unseres Alltags.
Anne-Françoise Allaz
Prof. Dr. med., Mitglied des Advisory Boards der Schweizerischen Ärztezeitung
Ihre Berechtigung lässt sich schwer abstreiten; schliesslich dienen sie einem guten Zweck und helfen, kognitive Verzerrungen zu überwinden. So gut die Intention dahinter sein mag – ihr Einsatz wirft dennoch ethische Fragen und Debatten auf, bei denen sich Verfechter eines «sanften» Paternalismus und Kritiker «der manipulativen Gesundheitsdiktatur» gegenüberstehen.
Dabei stellt sich die Frage, ob man hier angesichts der enormen Kräfte, die Tabak- und Lebensmittelindustrie in Sachen Manipulation aufwenden, nicht den falschen Kampf kämpft. Unter dem Einfluss von Edward Bernays – einem Neffen Sigmund Freuds – machten sich multinationale Konzerne schon früh die Psychologie zunutze, um immer ausgeklügeltere Marketinginstrumente zu entwickeln. Dabei werden Emotionen und Sehnsüchte angesprochen, Meinungen manipuliert und sogar Ärztinnen und Ärzte beeinflusst, um Verhaltensnormen oder Werte zu verändern – mit Sprüchen wie «Rauchen hält schlank», der Anpreisung von Milchpulver als «hygienischem» und «frauenfreundlichem» Ersatz für Muttermilch, dem Herunterspielen schädlicher Auswirkungen von Alkohol in der Schwangerschaft und heutzutage der Verteidigung stark verarbeiteter Lebensmittel und überzuckerter Limonaden, wie unser Kollege Jean Martin [3] anprangert. Doch mit den Healthy Nudges ist es wie mit dem Kampf zwischen David und Goliath: Die finanziellen Mittel, die für ein ausgeklügeltes, professionelles Marketing, für wissenschaftliche Infiltration und institutionelles Lobbying aufgewendet werden, sind im Vergleich immens, was eine aktuelle Lancet-Serie [4] ausführlich darlegt. Traurig, dass die Psychologie auch für solche Zwecke herhalten muss.
1 Chevallier C und Perona M. Homo Sapiens dans la Cité. Comment adapter l’action publique à la psychologie humaine? Odile Jacob, Paris 2022.
2 Last BS, Buttenheim AM, Timon CE et al. Systematic review of clinician-directed nudges in healthcare contexts. BMJ Open 2021;11:e048801. doi:10.1136.
3 Martin J. «Marchands de maladies» – l’industrie poursuit les manœuvres contre des mesures promotrices de santé. Rev Med Suisse 2023; 19: 598–599.
4 Rollins N, Piwoz E, Baker P et al. Marketing of commercial milk formula: a system to capture parents, communities, science, and policy. Lancet 2023; 401: 486–502.