Die «Allgemeinen Lernziele» in der ärztlichen Weiterbildung

SIWF
Ausgabe
2023/2021
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21838
Schweiz Ärzteztg. 2023;(2021):30-31

Affiliations
a Dr.med., MPH, amstad-kor; b Prof.Dr.med., Vizepräsident SIWF; c PD Dr.med. et MME, Präsidentin SIWF

Publiziert am 17.05.2023

Ein SIWF-Projekt Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass die Allgemeinen Lernziele im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung zu wenig Beachtung finden. Das SIWF lanciert deshalb im Juni 2023 eine Delphi-Befragung, mit dem Ziel, die Vermittlung der Allgemeinen Lernziele zu stärken.
Im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung, das heisst in der Phase zwischen Abschluss des Medizinstudiums und Erteilung eines eidgenössischen Facharzttitels, sind sowohl fachspezifische Anforderungen als auch übergeordnete, nicht fachspezifische Anforderungen, die sogenannten «Allgemeinen Lernziele», zu erfüllen.
Welche Lernziele sind besonders relevant? Das SIWF möchte das mit einer Delphi-Befragung herausfinden.
© Engin Akyurt / Unsplash
Die fachspezifischen Lerninhalte werden in den Weiterbildungsprogrammen der jeweiligen Fachgesellschaften definiert. Die allgemeinen Lernziele (ALZ) sind im Anhang 3 der Weiterbildungsordnung (WBO) formuliert; sie stützen sich auf das CanMEDS-Modell («Canadian Medical Educational Directives for Specialists»), das in den 1990er Jahren in Kanada entwickelt wurde und sieben Rollen des ärztlichen Handelns beschreibt. Der Reiz des CanMEDS-Rollenmodells liegt darin, dass es die ganze Breite des ärztlichen Handelns mit einem einfachen Modell abbildet. Es verdeutlicht, dass die «gute Ärztin» weit mehr benötigt als Fachwissen und handwerkliches Geschick. Die Weiterbildung muss daher ausdrücklich auch die vermeintlich weniger wichtigen Rollen einschliessen, die um den «Medizinischen Experten» herum angeordnet sind. Dazu gehören beispielsweise kommunikative Fähigkeiten oder auch ärztliches Handeln im ethischen Kontext.

Problemstellung

Die ALZ sind grundsätzlich Pflichtinhalte der ärztlichen Weiterbildung und haben Umsetzungscharakter. Leider zeigt sich in der Realität, dass sie in der Weiterbildung der Assistenzärztinnen und -ärzte wenig Beachtung finden. Zum gleichen Schluss kam bereits 2016 eine Umfrage bei Leiterinnen und Leitern von Weiterbildungsstätten. Die möglichen Gründe für diesen Dornröschenschlaf sind vielfältig und werden nachfolgend skizziert.
1. Die Beschreibung der ALZ in den SIWF-Dokumenten ist uneinheitlich
Der Anhang 3 der WBO umfasst den Lernzielkatalog mit den «Allgemeinen Lernzielen für die Weiterbildungsprogramme»; dieser ist gemäss den sieben CanMEDS-Rollen strukturiert und führt im Teil A eine Kurzversion und im Teil B eine «Ausführliche Version der Allgemeinen Lernziele» auf. Die «ausführliche Version» enthält nicht weniger als 166 Ziele , die zu erreichen sind.
Das Positionspapier «Grundsätze und Empfehlungen für die Vermittlung der Allgemeinen Lernziele» auf der Website des SIWF nimmt Bezug auf die oben erwähnte Umfrage bei den Leiter:innen der Weiterbildungsstätten und listet anschliessend folgende zu bearbeitende Themen auf: Kommunikation, Ökonomie und Medizin, Team- und Konfliktmanagement, Leadership, Umgang mit Fehlern, Ethische Entscheidungsfindung, Bestimmung der Arbeitsfähigkeit, «Clinical decision making». Der Bezug zu den CanMEDS-Rollen ist nicht mehr gegeben.
Im e-Logbuch können die angehenden Fachärztinnen und -ärzte das Erreichen der Lernziele dokumentieren. Die ALZ sind dabei in den sogenannten WBO-Kompetenzen abgebildet. Dabei handelt es sich um 22 ganz unterschiedliche Aspekte, die von Betreuung über Pharmakotherapie bis zu Selbstorganisation reichen. Auch hier ist der Bezug zu den CanMEDS-Rollen nicht mehr sichtbar.
2. Es ist unklar, wie die ALZ zu vermitteln sind
In den «Grundsätzen und Empfehlungen für die Vermittlung der Allgemeinen Lernziele» wird festgehalten, dass es für die Vermittlung der ALZ einer engen Kooperation zwischen Fachgesellschaften, Weiterbildungsstätten und dem SIWF bedarf. Wenn dem SIWF die Aufgabe der Definition von Grundsätzen und Richtlinien, allenfalls der Koordination zufällt, so müsste die praktische Umsetzung, notwendigerweise mit Unterstützung der Fachgesellschaften, am Ort des Geschehens, also an den Weiterbildungsstätten stattfinden. Wie genau diese Vermittlung sinnvollerweise geschehen soll (z.B. durch Kurse, Lektüre usw.), wird in diesem Dokument jedoch nicht näher erläutert.
3. Es ist unklar, wie das Erreichen der ALZ zu überprüfen ist
Im e-Logbuch ist festzuhalten, ob die ALZ bzw. die WBO-Kompetenzen erreicht wurden bzw. vorhanden sind. Bezüglich Methode, wie dies festzustellen ist, wird erwähnt, dass die entsprechenden Fragen «im gemeinsamen Gespräch aufgrund der Erwartungen an den Facharztanwärter gemessen an seinem aktuellen Weiterbildungsstand bzw. -jahr» zu beantworten seien, und zwar mit «trifft vollständig zu» bis zu «trifft gar nicht zu» bzw. «nicht anwendbar».
Für das vorgesehene Projekt haben wir in einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 50 e-Logbüchern von Assistenzärztinnen und -ärzten kurz vor Erreichen des Facharzttitels analysiert, wie das Erreichen der 22 WBO-Kompetenzen bewertet wird. Dabei fielen vor allem zwei Punkte auf:
– Die 22 zu beurteilenden WBO-Kompetenzen wurden bei einem maximal möglichen Wert von 4 («trifft vollständig zu») im Durchschnitt alle sehr gut bewertet, von minimal 3.62 (für Forschung am Menschen) bis maximal 3.96 (für Verhalten gegenüber Mitarbeitenden).
– Bei 25 (von 50) Assistenzärztinnen und -ärzten wurden alle 22 WBO-Kompetenzen mit dem Punktemaximum bewertet.
Diese Zahlen können zweierlei bedeuten: Entweder werden die ALZ in hohem Masse erreicht (wofür der erste Punkt spricht), oder aber – was wahrscheinlicher ist – die Bewertung wird nicht mit der notwendigen Seriosität vorgenommen (wofür der zweite Punkt spricht).

Projekt zur Stärkung der ALZ

Das offensichtliche Unbehagen im Zusammenhang mit der Umsetzung der ALZ ist also möglicherweise darauf zurückzuführen, dass unklar ist,
– welche Lernziele tatsächlich zu vermitteln sind,
– wie diese zu vermitteln sind und
– wie deren Erfüllung zu überprüfen ist.
Aus Sicht des SIWF ist diese Situation unbefriedigend. Das SIWF möchte sich deshalb vermehrt dafür einsetzen, dass die ALZ in der ärztlichen Weiterbildung eine stärkere Beachtung erfahren. Es sieht dafür ein dreistufiges Vorgehen vor: In einem ersten Schritt sollen die Lernziele präzisiert und allenfalls priorisiert werden; danach sollen zusätzlich deren Vermittlung und schliesslich die Art der Überprüfung geklärt werden.
Im Hinblick darauf findet ab Juni 2023 bei Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung sowie bei Leiterinnen und Leitern von Weiterbildungsstätten eine Delphi-Befragung statt. Diese soll aufzeigen, welche ALZ als besonders relevant erachtet werden und prioritär umzusetzen wären. Die Befragung wird voraussichtlich in drei aufeinanderfolgenden Runden durchgeführt und erfolgt jeweils online.
Das SIWF dankt allen angefragten Ärztinnen und Ärzten, wenn sie sich für diese Umfrage eine Viertelstunde Zeit nehmen. Dadurch steigt die Chance, dass die ALZ in Zukunft jene Bedeutung erhalten, die ihnen in der ärztlichen Weiterbildung auch zusteht.

Das SIWF setzt sich für eine Stärkung der Allgemeinen Lernziele ein

Im Hinblick auf die Stärkung der Allgemeinen Lernziele findet ab Juni 2023 bei Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung sowie bei Leiterinnen und Leitern von Weiterbildungsstätten eine Delphi-Befragung statt. Diese soll aufzeigen, welche Allgemeinen Lernziele als besonders relevant erachtet werden und prioritär umzusetzen wären.
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