Interview

«Eine Null-Fehler-Kultur ist illusorisch»

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.21840
Veröffentlichung: 14.06.2023
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(24):16-20

Interview: Adrian Ritter

Jubiläum Die Stiftung Patientensicherheit Schweiz feiert ihr 20-jähriges Bestehen. Ein Gespräch mit Stiftungsratspräsident Thomas Steffen über Fehlerkulturen und die Notwendigkeit eines nationalen Meldesystems.

Thomas Steffen, seit 20 Jahren setzt sich Ihre Stiftung für die Patientensicherheit ein. Wie sicher sind Patientinnen und Patienten heute in der Schweiz?

Die Schweiz hat ein sehr gutes Gesundheitswesen. Aber es passieren auch hierzulande zu viele medizinische Fehler. Es fehlt nach wie vor an einem umfassenden nationalen Meldesystem. Mit dem CIRRNET [1] hat unsere Stiftung zwar ein Netzwerk geschaffen, das lokale Fehlermeldesysteme verbindet. Allerdings ist das freiwillig und es geht dabei nur um Fehler, die nicht zu einem Schaden führen. Bezüglich unerwünschter Ereignisse mit einer Schädigung gibt es nur Schätzungen. Die besagen, dass es in der Schweiz bei etwa 5 bis 10% aller Behandlungen – sowohl stationär wie ambulant – zu Fehlern kommt. Wobei die Hälfte dieser Fehler vermeidbar wäre.

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Thomas Steffen, MD MPH, ist seit Juni 2022 Präsident der Stiftung Patientensicherheit Schweiz. Zudem ist er Präsident von Public Health Schweiz. Daneben ist er als freischaffender Berater tätig. Er studierte an der Universität Basel Humanmedizin.

© David Sigg

Wie sieht das im internationalen Vergleich aus?

Die Schweiz liegt im Mittelfeld. Wobei es auch international mit Ausnahme einiger Länder an verlässlichen Meldesystemen mangelt. Insofern ist auch keine verlässliche Aussage darüber möglich, wie sich diese Zahlen entwickeln und ob wir uns in eine gute Richtung bewegen. Was wir sagen können: Seit etwa 20 Jahren ist die Patientensicherheit zunehmend ein Thema in der Medizin. Die grössten Herausforderungen sind dabei die Infektionsprävention, die Medikationssicherheit, Verwechslungen und die Kommunikation in der Medizin.

Was hat die Stiftung Patientensicherheit Schweiz in der Zeit ihres Bestehens erreichen können?

Unser grösster Erfolg ist, dass die Patientensicherheit auch in der Schweiz als wichtiges Thema in der Medizin und Gesellschaft angekommen ist. Und wir konnten Grundlagen legen für zahlreiche Verbesserungen. Das reicht von unseren Analysen und Quick Alerts [2] mit Empfehlungen und Warnhinweisen bis zum Angebot «Room of Horrors» [3], also Trainingsräumen für Patientensicherheit.

Inwiefern gibt es Entwicklungen, welche zu einer besseren Patientensicherheit beitragen?

Ganz grundsätzlich hat sich die verstärkte interprofessionelle Zusammenarbeit positiv ausgewirkt. Auch Initiativen wie Qualitätszirkel sowie Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen tragen dazu bei, die Patientensicherheit zu verbessern. Insofern ist in den letzten zwei Jahrzehnten viel passiert. Auch neue Technologien können hilfreich sein, wobei da noch viel ungenutztes Potenzial besteht.

Können Sie ein Beispiel geben?

Methotrexat ist ein Medikament, das bei Krebserkrankungen sowie entzündlichen Krankheiten genutzt wird. Bei Krebs wird es täglich, im Falle von Entzündungen aber nur einmal wöchentlich angewandt – eine unübliche Dosierung. Deshalb passiert es immer wieder, dass das Medikament fälschlicherweise täglich eingenommen wird – mit zum Teil gravierenden Folgen. Wir haben deshalb in einem Projekt [4] untersucht, was Apotheken unternehmen, um falsche Dosierungen zu verhindern. Dabei zeigte sich, dass eine einfache, aber besonders wirksame technische Massnahme in 96% der öffentlichen und in 71% der Spitalapotheken fehlte. Die Software kann das Personal nämlich bei der Eingabe einer täglichen Dosierung zwingen, diese zu überprüfen und zu bestätigen.

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Aus der Sicht der Patientensicherheit sollten in der Medizin die Hierarchien flacher werden, meint Thomas Steffen.

© David Sigg

Technik fördert also die Patientensicherheit?

Ja, in diesem Fall ist das so und war ein schöner Erfolg für uns, weil das Projekt dazu führte, dass in zahlreichen Institutionen der Prozess angepasst wurde. Neue Technologien können aber umgekehrt auch komplex sein und viele Schnittstellen enthalten. Insofern birgt jede noch so segensreiche neue medizinische Technologie auch neue mögliche Fehlerquellen. Aber wir sollten Technologien wo immer sinnvoll und möglich nutzen. Unsere Stiftung hat sich beim Thema Patientensicherheit nicht zufällig auch immer wieder von der sehr technischen Luftfahrt inspirieren lassen. Dort sind bezüglich Sicherheit enorme Fortschritte erzielt worden. Das Risiko, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, ist seit den 1960er Jahren drastisch gesunken.

Wie ist das gelungen?

Einerseits durch technische Systeme, andererseits durch eine neue Fehlerkultur. Wenn wir Fehler vermeiden wollen, müssen wir sowohl beim Individuum wie auch beim System ansetzen. Die Menschen gilt es zu sensibilisieren und schulen. Noch wichtiger aber ist die Ebene der Prozesse – beispielsweise Checklisten – und der Kultur. Die Luftfahrt hat es geschafft, von einer «Blame Culture» zu einer «Just Culture» überzugehen.

Was bedeutet das?

Wenn Fehler passieren, suchen wir Menschen reflexartig nach Schuldigen. Dabei übersehen wir oft die Zusammenhänge und Prozesse und machen einfach einzelne Personen verantwortlich. Das ist die «Blame Culture». In einer «Just Culture» hingegen – oft als Gerechtigkeitskultur übersetzt – besteht eine Atmosphäre des Vertrauens. Mitarbeitende werden fair behandelt und unterstützt, wenn Fehler passieren. Gemeinsame Werte sollen davor schützen, den Betroffenen Vorwürfe zu machen. Entsprechend fühlen sie sich so sicher, dass sie Fehler und Bedenken melden – sich also eine Speak-up-Kultur entwickelt. Die Luftfahrt hat das gut hingekriegt. Die Medizin hat in den letzten Jahren Schritte in diese Richtung gemacht, aber noch einen weiten Weg vor sich.

Inwiefern?

Die Medizin ist traditionell sehr hierarchisch geprägt. Das erschwert das Speak-up. Daher sollten aus der Sicht der Patientensicherheit die Hierarchien flacher werden. Und es ist unumgänglich, dass Chefinnen und Chefs zu ihren Fehlern stehen. Nur dann werden es auch ihre Mitarbeitenden tun und sich getrauen, auch Vorgesetzte auf einen Fehler hinzuweisen. Komplexe Systeme wie die Medizin haben viele Schnittstellen. Oft haben wir es deshalb mit Fehlerketten zu tun, nicht mit dem Fehler nur einer einzelnen Person. Insofern besteht in einem Prozess oft mehrmals die Möglichkeit, einen bestimmten Fehler zu vermeiden. Wenn man die Gelegenheit dazu denn nutzt. Mein eindrücklichstes Beispiel diesbezüglich habe ich als junger Arzt erlebt.

Was geschah?

Ich war auf der Geriatrie tätig. Als eine Patientin verstarb, hatte ich die Aufgabe, die Angehörigen zu informieren. Die Pflegefachperson legte mir die Dateikarte mit der Telefonnummer bereit. Ich kontrollierte diese nicht weiter, rief an und teilte die traurige Nachricht mit. Als ich abhängte, realisierte ich, dass ich die falschen Angehörigen kontaktiert hatte. Sie waren zum Glück verständnisvoll, als ich mich sofort wieder meldete und entschuldigte.

Welche Bedeutung hat es, sich gegenüber Patienten und Angehörigen für Fehler zu entschuldigen? Oft ist von juristischen Hindernissen zu hören, indem eine Entschuldigung einem Schuldeingeständnis gleichkäme.

Wenn Patienten und Angehörige spüren, dass ein unerwünschtes Ereignis auch die Gesundheitsfachpersonen betroffen macht, haben sie viel weniger Mühe, damit umzugehen. Wenn man in so einem Moment sagt, es tue einem leid, dass etwas passiert ist und man sich darum kümmere, ist das keine Schuldanerkennung. Die juristische Aufarbeitung kann dann immer noch folgen – und sie muss vielleicht auch. Eine gute Fehlerkultur ist nicht so zu verstehen, dass alle Fehler einfach okay sind. Gerade wenn es sich um eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung handelt, kann es auch zu einer strafrechtlichen Aufarbeitung kommen.

Wie geht es den Ärztinnen und Ärzten, wenn ihnen ein Fehler passiert?

Sie leiden oft sehr darunter, wie Studien [5] zeigen. Man spricht bei solchen Traumatisierungen auch von «second victim». Dieses Phänomen ist allerdings selbst innerhalb der Ärzteschaft erst wenig bekannt.

Die Stiftung Patientensicherheit hat dazu 2010 die Publikation «Täter als Opfer» [6] veröffentlicht. Darin war zu lesen: «Nach einem Fehler bieten die Betriebe den beteiligten Gesundheitsfachpersonen in der Regel keine Unterstützung an.» Sieht das heute anders aus?

Da bestehen grosse Unterschiede. Im Rettungswesen etwa sind Debriefings längst Standard. Allgemein ist im stationären Bereich mehr passiert als im ambulanten Setting. Insofern ist es sehr wertvoll, dass etwa die FMH das Angebot REMED geschaffen hat. Wichtig ist allgemein, dass eine niederschwellige Unterstützung systematisch in die medizinischen Institutionen eingebettet ist – und sinnvollerweise sowohl für Patientinnen und Patienten, Angehörige wie auch Gesundheitsfachpersonen zugänglich.

Inwiefern gefährdet der Fachkräftemangel die Patientensicherheit?

Im Einzelfall kann das passieren. Insgesamt aber ist meine Befürchtung vor allem, dass wegen des Fachkräftemangels das medizinische Angebot eingeschränkt werden wird – im Sinne etwa von längeren Wartezeiten. Das Thema Patientensicherheit kann umgekehrt dazu beitragen, die Gesundheitsberufe attraktiver zu machen. Denn es geht darum, mit einer Kultur der Wertschätzung den Menschen ins Zentrum zu stellen.

Ist das Ziel eine Null-Fehler-Kultur?

Nein, das wäre illusorisch und auch gefährlich. Es würde dazu führen, dass Fehler verschwiegen werden. Auch hier ist es wie in der Luftfahrt: Solange es Flugzeuge gibt, können trotz aller Vorsichtsmassnahmen auch Abstürze passieren. Menschen machen Fehler und Technik kann versagen. Wir können nur unser Bestes geben, dieses Risiko zu minimieren.

Was braucht es, um die Patientensicherheit weiter zu verbessern?

Wir stehen mitten in diesem Wandel zu einer neuen Fehlerkultur und müssen diesen Weg weitergehen. Und es geht darum, die Patientensicherheit nachhaltig und flächendeckend in die medizinischen Institutionen zu integrieren. Das mag mit den vorhandenen Ressourcen eine Herausforderung sein. Aber vergessen wir nicht: Gemäss einer OECD-Studie [7] stehen 15% der Krankenhauskosten im Zusammenhang mit mangelnder Patientensicherheit.

Wie weit ist die Integration der Patientensicherheit in die medizinischen Institutionen?

Vermutlich hat heute jedes Spital gewisse Standards zu Qualität und Patientensicherheit. Auch darüber wissen wir wenig, es gibt keinen Überblick. Bewegung kommt jetzt insofern in die Sache, als dass die Verbände der Leistungserbringer und der Versicherer gemäss dem revidierten KVG Qualitätsverträge abschliessen müssen. Und: Die Eidgenössische Qualitätskommission hat das Ziel, eine Machbarkeitsstudie für ein nationales Fehler-Meldesystem in Auftrag zu geben. Das ist ein ganz wichtiger Schritt und wird endlich eine verlässliche Zahlenbasis liefern.

Wie sieht die Zukunft der Stiftung Patientensicherheit Schweiz aus?

Wir wollen weiterhin in der Schweiz das Kompetenzzentrum für Analyse, Beratung und Dienstleistungen rund um das Thema Patientensicherheit sein. Unser Fokus liegt dabei auf der Implementierung von Wissen. Unsere grösste Herausforderung ist, dass wir eine solide Sockelfinanzierung benötigen. Wenn wir uns nur über Projekte finanzieren können, fehlt uns die Unabhängigkeit und der nötige Freiraum für Innovationen. Wir sind dazu mit den Bundesbehörden im Gespräch und haben immer noch die Hoffnung, eine Lösung zu finden.

Tagung zum 20. Geburtstag

Die Jubiläums-Fachtagung «Zwischen zwei Zwischenfällen» der Stiftung Patientensicherheit findet am 7. Dezember in Zürich statt und ist öffentlich.

https://patientensicherheit.ch/20-jahre/

Literatur

1 https://patientensicherheit.ch/cirrnet/

2 https://patientensicherheit.ch/quick-alert/

3 https://patientensicherheit.ch/room-of-horrors/

4 https://link.springer.com/article/10.1007/s11096-023-01567-z

5 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22976126/

6 https://patientensicherheit.ch/wp/wp-content/uploads/2023/03/3_SR_3_Taeter_als_Opfer_D_160725.pdf

7 https://www.oecd.org/els/health-systems/The-economics-of-patient-safety-March-2017.pdf

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