Praxistipp

Empathisch distanziert

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.21858
Veröffentlichung: 28.06.2023
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(26):80-81

Brida von Castelberg

Karriere Einfühlungsvermögen stärkt die Arzt-Patienten-Beziehung. Zu viel Mitgefühl ist aber nicht gut für die ärztliche Entscheidungsfähigkeit. Der Grat, auf dem man wandert, ist oftmals schmal: Unsere Autorin gibt eine Anleitung, wie man im Laufe einer Karriere diesen Balanceakt meistert.

Laut einer Studie aus England (doi.org/10.1186/s12909-023-04165-9) nimmt die Empathiefähigkeit junger Medizinerinnen und Mediziner im Verlauf der Ausbildung ab. Als Gründe werden Priorisierung biomedizinischer Erkenntnisse, stressige Organisation und fehlende Vorbilder genannt. Empathie, definiert als Zuhören können, Wertschätzung zeigen, sich auf die Komplexität einer Persönlichkeit einlassen, einen anderen soziokulturellen Hintergrund unvoreingenommen betrachten, verständlich kommunizieren – das ist nicht jeder und jedem als gute Charaktereigenschaft gegeben, muss also erlernt werden.

Muss man krank sein, um Kranke zu verstehen? Nein, jedoch sagte mir ein Kollege, dass seine beste Lebensschule die Tatsache war, dass er eine Schwester mit Down Syndrom hatte. Ohne ein Verständnis für ihr Tempo und ihre Lebenswelt wäre keine empathische Beziehung zu ihr möglich gewesen.

In einem viele Jahre zurückliegenden Interview regte ich an, dass jeder Mensch alle paar Monate einen Tag mit einem Menschen einer anderen Berufsgattung verbringen sollte – oder, um sich körperlich vorzustellen, was es für Betroffene bedeutet, einen Tag in einem Rollstuhl verbringen sollte. Diese Aussage bescherte mir eine interessante Freundschaft mit einem Lastwagenfahrer, mit dem ich im Morgengrauen Richtung Ludwigshafen fuhr. Ein Freund von mir ging, in Ermangelung eines Rollstuhls, einen Tag lang nur rückwärts, was seinem Ruf als Künstler in seinem Dorf nicht schadete.

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© Luca Bartulović

Zuhören und beobachten

Wie aber ist der Alltag der Begegnungen zwischen Arzt, Ärztin und Patientin beziehungsweise Patient? Der Patient hat eine Leidensgeschichte, die ihn dazu bringt, ärztlichen Rat und Hilfe zu holen. Er verbindet mit diesem Arztbesuch Hoffnung, aber auch Ängste. Der Arzt hingegen begegnet einer ihm unbekannten Person, so, wie er es schon hunderte Male getan hat. Bereits die erste Begegnung ist asymmetrisch und sollte, da der Patient der Leidende, Hilfesuchende ist, für diesen möglichst angenehm und angstfrei gestaltet werden. Der Patient oder die Patientin beginnt zu sprechen. Mimik, Gestik und Ausdrucksweise erzählen sehr viel Zusätzliches. Dieser erste Moment sollte nicht durch Fragen unterbrochen werden, sondern möglichst genau beobachtet und durch aufmunternde Worte oder Zeichen unterstützt werden. Ein Bildschirm zwischen den beiden Menschen ist sicher nicht hilfreich, ebenso wenig das Klappern der Tastatur. Die Sitte, in Spitälern sowohl Anamnese als auch Erstuntersuchung – sei es aus Zeitgründen oder auch zu Lehrzwecken – durch die Unterassistenten durchführen zu lassen, erachte ich als Unsinn. Denn so entgeht dem nachfolgend behandelnden Arzt sehr viel essenzielle Information und Einsicht in die Persönlichkeit des Patienten, der Patientin. Das Aufbauen einer Vertrauensbeziehung wird deutlich erschwert.

Kann ein Mann ein guter Frauenarzt sein? Ja. Jedoch empfehle ich jedem männlichen Kollegen, sich einmal in der Stille des Untersuchungszimmers unten ohne auf den Untersuchungsstuhl zu legen und sich mit gespreizten Beinen in diese Situation einzufühlen. Denn das Ungleichgewicht in der Arzt-Patienten-Beziehung zeigt sich vor allem exemplarisch darin: Es entkleidet sich nur einer.

Wie also verhindern, dass junge Kolleginnen und Kollegen ihre Empathiefähigkeit verlieren, gleichzeitig aber nicht ihre Entscheidungsfähigkeit wegen fehlender Distanz und zu viel Mitgefühl beeinträchtigt wird? Natürlich gibt es gute Kommunikations- und Empathiekurse. Bei uns im Spital fanden dies lustigerweise vor allem die Kaderärztinnen und -ärzte total überflüssig. Aber auch angelernte, an sich hilfreiche Sätze werden zur Farce, wenn die entsprechenden Gefühle und das Interesse an der Antwort nicht vorhanden sind. So bleiben, wie immer, die gelebten Vorbilder, seien es Vorgesetzte oder auch gute Pflegende als Lehrer. Denn nicht nur ist der Heilerfolg in einer guten Arzt-Patienten-Beziehung besser, auch die Freude und Zufriedenheit der Ärzte verbessert sich spürbar.

Ein Ratschlag aus dem deutschen Ärzteblatt als Training lautet so: Bei der nächsten Party, die Sie besuchen, stellen Sie nur Fragen und sprechen kein einziges Mal über sich. Viel Erfolg.

Brida von Castelberg

Sie war von 1993 bis 2012 Chefärztin der Frauenklinik des Stadtspitals Zürich. An dieser Stelle schreibt sie regelmässig über Karrierefragen.

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