Praxistipp

«Kinder sind meine Habilitation»

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.22051
Veröffentlichung: 23.08.2023
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(34):80-81

Jürg Unger

Karriere Wer im Beruf vorankommen möchte, muss vor allem Zeit und Energie investieren. Oft bleibt dabei die Zeit für einen selbst auf der Strecke. Kommen noch Kinder hinzu, steigen die Anforderungen bei gleichzeitig sinkenden Ressourcen für die eigene Freizeitgestaltung. Unser Autor zeigt auf, wie dieses Dilemma zu lösen ist.

Wenn Eltern bei der Scheidung wegen der Kinder streiten, geben die verantwortlichen Richterinnen und Richter oft als letzte Möglichkeit ein Kinderzuteilungsgutachten in Auftrag. Beim Verfassen zahlreicher Zuteilungsgutachten und bei der Lektüre vieler von Mitarbeitenden geschriebenen Expertisen hörte ich von den betroffenen Kindern und Jugendlichen immer dieselben Botschaften: «Liebe Eltern, bleibt wenn möglich zusammen und schaut, dass ihr gut miteinander auskommt. Und wenn die Scheidung trotzdem sein muss, so lasst uns unbeschwert zwischen euch hin und her gehen, denn wir haben euch beide grundsätzlich sehr gerne.» Was bedeuten diese Worte der Kinder für die Karrieren der Eltern? Wie im Praxistipp in der Ausgabe 104 (19) beschrieben, braucht eine Partnerschaft Zeit und Energie. Kommen Kinder hinzu, erfordert das zusätzliche Zeit und Energie. Wenn beide Eltern ein (über-)volles Pensum arbeiten und die Kinderbetreuung in andere Hände geben, so warten auf sie bei der Rückkehr nach Hause erwartungsvolle Kinder. Zeit für sich selbst und die eigene Regeneration bleibt vorerst keine.

Altersabhängig wechseln die Aufgaben: Windeln wechseln, Ernährung, Hausaufgaben, Grenzen setzen, Aushandeln von Regeln zur Heimkehr und Alkoholkonsum an Partys. Am Wochenende muss man nicht nur den Haushalt in Schwung halten, sondern darf auch an den sportlichen Wettkämpfen oder künstlerischen Betätigungen des Nachwuchses teilnehmen, wozu man bitte noch etwas selbst Gebackenes mitbringe. Dazu gesellen sich die Nacht- und Wochenenddienste. Die Abende und Wochenenden zu Hause werden kürzer und intensiver, sodass die eigene Erholung sorgfältig geplant sein will. Die gemeinsame Zeit mit Kindern und Jugendlichen ist aber zugleich auch etwas vom Erfüllendsten, das das Leben bereithält. Vor allem dann, wenn die eigenen Energie- und Zeitreserven dafür eingesetzt werden. Vernachlässigt man diesen bewussten Einsatz, so zeigt der Nachwuchs mit seinem Verhalten oft sehr klar, wenn es auf Elternebene negativ knistert oder die Kinder das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Somit ist der klare Entschluss zur Elternschaft auch ein Entscheid dazu, viel positive Energie sowohl in die Partnerschaft als auch für die Kinder investieren zu wollen. Weil die Zeitreserven endlich sind, verbleibt bei einer bewusst gelebten Eltern- und Partnerschaft weniger Zeit für Beruf und Karriere.

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© Luca Bartulović

Im Bewusstsein dieser Tatsachen wählte ein Paar von zwei in der Chirurgie Habilitierten in Chefpositionen den Lebensweg ohne eigene Kinder und sie waren zugleich wundervolle Onkel, Tante, Patin und Pate. Andere verzichten auf eine akademische Laufbahn, um in einem kleineren Spital oder einer Praxiskette eine Leitungsfunktion zu übernehmen. Dazu kann man neben den klinischen Qualifikationen die Fähigkeiten in Organisation und Führung zur Vorbereitung für Kaderfunktionen vertiefen. Sehr zentral beeinflusst das medizinische Fach, wie sich Beruf und Familienleben kombinieren lassen. Deshalb sollten Paare mit dem Entschluss zur Elternschaft auch klären, wer welchen Facharzttitel erwirbt. Das Leben kann aber überraschen und einen Plan B erfordern (SÄZ 103(06)): Verlasse ich für die Familie die Stelle mit Aufstiegschancen, wenn mein Arbeitgeber keine Teilzeit ermöglicht?

Dieser Text begann mit dem wichtigsten Wunsch der Kinder an ihre Eltern. Nimmt man diesen ernst, so bedingt der bewusste Entscheid zur Elternschaft, dass man auch beruflich verzichtet und nicht beide Partner die zeitlich anspruchsvollsten Positionen anstreben können, weil sonst die Gefahr des Scheiterns mangels verfügbarer eigener Ressourcen exponentiell ansteigt. Und bezüglich Karriereverzicht für die Kinder sind die Geschlechter ebenbürtig. Dafür gilt vielleicht: «Meine Kinder sind meine Habilitation.»

Dr. med. Jürg Unger

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. An dieser Stelle schreibt er regelmässig über Karrierefragen.

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