Schwerpunkt

Wirtschaftlichkeit nicht-medikamentöser Interventionen bei Demenz

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.22066
Veröffentlichung: 06.09.2023
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(36):74-75

Prof. Dr. oec. publ. Simon Wieser

Kostenmessung Alle Behandlungen, die von der Krankenversicherung übernommen werden, müssen wirksam und wirtschaftlich sein. Bei Menschen mit Demenz sind nicht-medikamentöse Interventionen oft die einzige Möglichkeit zur Verbesserung der Lebensqualität. Was braucht es, um ihre Wirtschaftlichkeit zu zeigen?

Bisher gibt es keine krankheits-verändernden Behandlungen für Demenz. Die vorhandenen Medikamente können den Verlauf zwar manchmal verlangsamen, jedoch nicht stoppen. Die neuen Medikamente konnten bisher kaum überzeugen. Deshalb sind nicht-medikamentöse Interventionen meist die einzige Option.

Gemäss Krankenversicherungsgesetz müssen Behandlungen, deren Kosten von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen werden sollen, drei Kriterien erfüllen: Sie müssen wirksam sein, also nachgewiesen die Gesundheit verbessern oder Leid lindern. Sie müssen zweckmässig sein, sich also für die Behandlung des spezifischen Patienten oder der spezifischen Patientin eignen. Und sie müssen wirtschaftlich sein, also ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen. Dieses Prinzip gilt sowohl für Medikamente wie für die Pflege zu Hause oder beispielsweise die Ergotherapie.

Aber was ist ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zu verstehen, was der Nutzen und die Kosten einer Behandlung sind und wie man diese messen kann. Bei Demenz ist die Beurteilung von Nutzen und Kosten besonders schwierig.

Bei den Kosten sollten nicht nur die Kosten der neuen Behandlung, sondern auch andere und möglicherweise vermiedene Kosten berücksichtigt werden. Die höchsten Kosten von Demenz entstehen oft im Pflegeheim. Diese Kosten fallen zu einem grossen Teil nicht bei der Krankenversicherung, sondern bei den Gemeinden, Kantonen und der AHV an. Die betreuenden Angehörigen sind besonders stark betroffen und tragen neben der psychischen Belastung auch ein erhöhtes Krankheitsrisiko und die finanzielle Last. Gemäss einer internationalen Gruppe von Expertinnen und Experten in der gesundheitsökonomischen Evaluation von Demenzbehandlungen sollten die Kosten der Angehörigen bei der Entscheidung zur Kostenübernahme immer berücksichtigt werden [1].

Der Nutzen einer erfolgreichen Behandlung von Menschen mit Demenz liegt meist in der Verbesserung der Lebensqualität. In gesundheitsökonomischen Evaluationen wird diese mit standardisierten Instrumenten wie beispielsweise Befragungen der Betroffenen gemessen. Gerade bei fortgeschrittener Erkrankung kann es aber sehr schwierig sein, die Betroffenen zu ihrer Lebensqualität zu befragen. Deshalb werden oft nicht die Menschen mit Demenz, sondern ihre Betreuenden befragt. Die Lebensqualitäts-Gewichte weisen auf eine stark abnehmende Lebensqualität bei fortschreitender Demenz hin. Gemäss einer aktuellen Studie sinkt die Lebensqualität von 80% bei leichter kognitiver Beeinträchtigung auf 25% bei schwerer Demenz im Pflegeheim (100% entspricht einem Zustand in voller Gesundheit) [2].

Bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit einer nicht-medikamentösen Behandlung gilt es, wie bei einem Medikament, die Kosten und den Nutzen der Behandlung zu vergleichen. Zur Illustration dient hier das Beispiel einer aktuellen US-amerikanischen Studie zu vier nicht-medikamentösen Interventionen [3]. Sie misst die Wirksamkeit der Intervention in zusätzlich «gewonnenen» Tagen zu Hause statt im Pflegeheim, im Unterschied zur Vergleichsgruppe von Menschen mit Demenz, die in der Zufallsauswahl nicht in Interventionen eingeschlossen wurden.

zeigt die Wirksamkeit der vier Interventionen im Kosten-Wirksamkeits-Diagramm. Das Diagramm besteht aus einer horizontalen Wirksamkeitsachse und einer vertikalen Kostenachse. Die Achsen schneiden sich bei der Situation der Vergleichsgruppe, die nicht an der Intervention teilgenommen hat. Die Abstände vom Achsenschnittpunkt stellen also die Differenz der Wirksamkeit bzw. der Kosten zur Vergleichsgruppe dar. Die vier Punkte rechts vom Achsenschnittpunkt auf der Wirksamkeitsachse zeigen, dass alle vier Interventionen zu einer Verzögerung von Pflegeheim-Eintritten geführt haben. Je nach Intervention lag die Verzögerung bei zwischen durchschnittlich 14 und 43 Tagen.

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Abbildung 1: Wirksamkeit von vier nicht-medikamentösen Interventionen im Kosten-Wirksamkeits-Diagramm

Für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit sind zusätzlich Informationen zu den Kosten bzw. den Ersparnissen durch die Intervention nötig. Obwohl die Interventionen mit Kosten verbunden sind, können sie, wenn sie andere Kosten vermeiden, zu Ersparnissen führen. In diesem Fall zum Beispiel durch die Vermeidung der Kosten des Aufenthalts im Pflegeheim. Die Kosten im Diagramm entsprechen also den Netto-Kosten.

stellt die Wirtschaftlichkeit in verschiedenen Kombinationen von Kosten und Wirksamkeit im Kosten-Wirksamkeits-Diagramm dar. Der Begriff «wirtschaftlich» wird hier mit den in gesundheitsökonomischen Evaluationen verwendeten Begriffen «kostenwirksam» oder «kostensparend» ersetzt. Interventionen, die nicht wirken und Kosten verursachen, sind nie wirtschaftlich, während solche, die wirksam sind und Kosten sparen, immer wirtschaftlich sind. Schwieriger ist die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit, wenn die Intervention wirksam ist und höhere Kosten verursacht. Interventionen, die sehr wirksam sind und wenig kosten, sind ziemlich sicher wirtschaftlich, denn Gesundheit darf ja durchaus etwas kosten. Interventionen, die hingegen kaum wirken und viel kosten, sind kaum wirtschaftlich. Wo genau hier die Grenze zwischen wirtschaftlich und nicht-wirtschaftlich ist, ist eine der grossen Fragen im Gesundheitswesen.

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Abbildung 2: Verschiedene Kombinationen von Wirtschaftlichkeit im Kosten-Wirksamkeits-Diagramm

Bei der Wirtschaftlichkeit der vier Interventionen unterscheiden sich die Ergebnisse je nachdem, ob die Kosten der Angehörigen berücksichtigt werden oder nicht. Ohne die Kosten der Angehörigen waren drei der Interventionen kostenwirksam und eine Intervention war kostensparend. Mit den Kosten der Angehörigen waren alle vier Interventionen kostensparend.

Für Sie zusammengefasst von der:

Nationalen Demenzkonferenz 2023 | 11.05.2023

Kongresszentrum Kreuz in Bern

Prof. Dr. oec. publ. Simon Wieser

Institutsleiter am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie ZHAW.

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Korrespondenzadresse

wiso[at]zhaw.ch

Literatur

1 Landeiro F, et al. Health economic modeling for Alzheimer’s disease: Expert perspectives. Alzheimers Dement (N Y). 2022;8(1):p.e12360.

2 Brück CC, et al. Projections of costs and quality adjusted life years lost due to dementia from 2020 to 2050: A population-based microsimulation study. Alzheimers Dement. 2023.

3 Jutkowitz E, et al. Cost effectiveness of non-drug interventions that reduce nursing home admissions for people living with dementia. Alzheimers Dement. 2023.

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