access_time veröffentlicht 09.03.2022

«Die Schweizer Alzheimer-Forschung ist sehr innovativ»

Giovanni Frisoni, Leiter Gedächtniszentrum, Universitätsspital Genf (HUG)

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«Die Schweizer Alzheimer-Forschung ist sehr innovativ»

09.03.2022

Ein neues nationales Register für Gehirngesundheit soll dazu beitragen, die Forschung im Bereich der Demenz voranzutreiben. Es sei wichtig, die stille Phase der Alzheimer-Krankheit besser zu erkennen, sagt Prof. Giovanni Frisoni.

 

Das Interview führte: Julia Rippstein, Redaktorin SÄZ

Dies ist eine gekürzte Version eines Interviews, welches in der  Ausgabe 11 am 16. März 2022 erscheinen wird.

 

Prof. Frisoni, Sie sind der Initiator des «Brain Health Registry». Warum haben Sie dieses nationale Register für gedächtnisbezogene Krankheiten und insbesondere Alzheimer eingerichtet? 

Wir folgen damit den jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Demenz. Lange Zeit war der Umgang mit Demenzpatienten reaktiv: Sie wurden behandelt, sobald sie mit Gedächtnisstörungen und Schwierigkeiten im Alltag zu uns kamen. In jüngster Zeit hat die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen ein neues Paradigma erreicht, nämlich das der Sekundärprävention. Es geht also darum, bei Menschen einzugreifen, die noch keine Gedächtnisstörungen, aber ein hohes Risiko haben, eine Form von Demenz zu entwickeln. 

Das Register soll also helfen, Personen zu identifizieren, die potenziell von Alzheimer bedroht sind.

Genau das ist der Fall. Sekundärprävention bedeutet, dass wir Menschen erreichen müssen, die keine kognitiven Störungen oder Symptome haben, also eine Bevölkerungsgruppe, die keinen Grund hat, ein Gedächtniszentrum aufzusuchen. Es liegt also an uns, diese Menschen zu erreichen. Das Register steht allen Personen ab 50 Jahren offen, dem Alter, ab dem man theoretisch gefährdet ist. 

Das «Brain Health Registry» ist das Ergebnis einer Synergie zwischen den verschiedenen Gedächtnis­zentren der Schweiz. Steckt dahinter das Bestreben, die Schweiz international an die Spitze zu bringen? 

Nach den USA, Grossbritannien und den Niederlanden ist die Schweiz das vierte Land, das ein solches Register einrichtet, und wir gehören damit zu den Pionieren. Wir wollen eine Lücke schliessen: Personen, die an einem Programm zur Sekundärprävention interessiert sind, können dies nicht über ihren Hausarzt tun, da es keine klinischen Programme gibt, die von den Krankenversicherungen bezahlt werden. Das Online-Register soll daher die Anmeldung potenzieller Kandidaten erleichtern. Bei diesem Ansatz sehen wir die Zivilgesellschaft als Partnerin.

Wollen Sie damit sagen, dass das Interesse der Behörden an neurodegenerativen Erkrankungen gering ist?

Sagen wir, man könnte erwarten, dass der Bund diesen Krankheiten mehr Aufmerksamkeit schenkt, da die Schweiz ein alterndes Land ist, dessen Bevölkerung immer häufiger von Alzheimer betroffen sein wird. Der Bundesrat hat vor kurzem einen Vorschlag für ein nationales Forschungsprogramm zu Demenzkrankheiten abgelehnt. Dies ist umso erstaunlicher, als wir in diesem Bereich einen sehr innovativen und wettbewerbsfähigen Wissenschaftsstandort haben. 

Bedeutet das, dass die Demenzforschung nicht ausreichend finanziert wird?

Im Vergleich zur medizinischen Forschung in Italien, die ich sehr gut kenne, verfügt die Schweiz über mehr Ressourcen. Trotzdem gibt es keine spezielle Finanzierung für Demenz. Aber wir sind keine Ausnahme: Die meisten Länder haben wenig getan, um neurodegenerative Erkrankungen zu bekämpfen. Ausnahmen sind Frankreich, das unter Präsident Nicolas Sarkozy einen Demenzplan eingeführt hat, und Deutschland mit dem Nationalen Demenznetz (DZNE). In der Schweiz sind wir weitgehend von europäischen Projektauf­rufen und Spenden von privaten Stiftungen abhängig. 

Könnte das Register dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf Demenz zu lenken?

Das hoffe ich. Wir würden uns wünschen, dass das ­Register das klinische System und das Netzwerk der Schweizer Gedächtniszentren stärkt, damit diese für Pharmaunternehmen und öffentliche Gelder interessanter werden.

Das «Brain Health Registry» will die Forschung in diesem Bereich vorantreiben. Welche Arten von Studien laufen derzeit und wann werden Sie die Personen, die im Register eingetragen sind, kontaktieren?

Derzeit laufen sechs Studien. Eine davon befasst sich zum Beispiel mit der intrakraniellen akustischen und visuellen Stimulation. Mitte Februar waren 662 Personen registriert. Wir werden die Freiwilligen, die zu einer der Forschungsstudien passen, ab der zweiten Jahreshälfte kontaktieren. 

 

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Giovanni Frisoni

Leiter Gedächtniszentrum, Universitätsspital Genf (HUG)

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