access_time veröffentlicht 17.10.2022

Eine stille Revolution?

Dr. rer. soc. oec. Christoph Schmitz, Geschäftsführer college M, Bern
Dr. med. Christina Venzin, Leitende Ärztin am Spital Davos, Dozentin bei college M, Bern
Prof. Dr. Marcel Zwahlen, Assoziierter Professor Epidemiologie und Biostatistik, Leiter Forschungsgruppe Versorgungsforschung, geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Bern

Eine stille Revolution?

17.10.2022

Der Fachkräftemangel ist in aller Munde. Praktisch in allen Spitälern sind Betten geschlossen, weil Pflegekräfte fehlen, händeringend wird vielerorts nach ärztlichem Personal gesucht. Die die kommen, wollen nicht mehr Vollzeit arbeiten. Ist das Ausdruck einer vorübergehenden Krise oder einer stillen Revolution, die derzeit im Gange ist? Wir denken, Spitäler und Führung müssen sich auf eine neue Welt einstellen.

 

Die Kurzversion dieses Artikels ist in der Ausgabe 42 erschienen. 

 

Die Schweiz verfügt aktuell über einen historischen Höchststand an unbesetzten Stellen. Die offenen Stellen für das Lehrpersonal zum Schulbeginn im August 2022 haben es medienwirksam verdeutlicht, ebenso ist der Mangel an Gastronomiepersonal evident, und immer deutlicher wird, wie viele Spitäler Betten wegen Personalmangel schliessen müssen. Für diesen Mangel gibt es drei Erklärungen [1]. Erstens wollen immer weniger Menschen Vollzeit arbeiten, was zur Reduktion von Arbeitspensen führt. Bereits in einer Umfrage, die wir für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2019 unter den letzten beiden Jahrgängen der Fachtitel-Erwerbenden der inneren Medizin, der Psychiatrie, der Chirurgie und der Ophthalmologie durchführten, wollten nur mehr 18% in Zukunft Vollzeit arbeiten. Das war noch vor der Pandemie, und das waren nicht mal die ganz jungen. Wenn zehn Personen ihr Pensum um 10% reduzieren, ergibt das 100%, also eine ganze Stelle, die wegfällt. Zweitens, viele ausländische Arbeitskräfte kehrten während der Pandemie zurück in ihre Heimat. Es zeichnet sich nicht ab, dass sie wiederkommen. Drittens, demografisch hochrelevant, scheiden die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge 1946 – 1964, also die Generation, die momentan noch einen grossen Anteil wichtiger Funktionen einnimmt, zunehmend aus dem Erwerbsleben aus. Das alles zusammen erklärt das Loch, das Arbeitskräfte abzusaugen und in ein Paralleluniversum zu verschieben scheint, wie es ein Gastronom formulierte [1].

In den Spitälern weniger wahrnehmbar, aber in anderen Organisationen markant spürbar, ist der Unwille vieler Mitarbeitenden aus ihren Home Offices zurückzukehren. «The Remote Revolution has happened», wie das in Amerika heisst und Stanford-Ökonom Nick Bloom exemplarisch in seinen Studien aufgezeigt [2]. Dieser Unwille zurückzukehren ist nicht zu unterschätzen, denn er bedeutet im Kern eine Absage an das Leben in den bislang üblichen Arbeitsverhältnissen. Um ihre Arbeit zu erledigen, können viele bestens verzichten auf: die Kontrolle durch die Vorgesetzte wie die Kollegen, unerfreuliche Räume, lästiges Pendeln. Zu dieser Einschätzung passt, dass es mit der pandemischen Verschiebung zu WFH (work from home) keine Produktivitätseinbussen zu verzeichnen gab. Auch wenn aus offensichtlichen Gründen für das klinische Personal kaum WFH möglich ist, ist anzunehmen, dass Viele Ideen darüber haben, worauf sie gerne verzichten würden. … 

All das spricht dafür, dass es sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, ein kurzes Krisenflackern, sondern um ein bleibendes Phänomen handelt. Und das bedeutet, dass sich Professionen wie Organisationen darauf einzustellen haben. Bislang, und das ist wichtig, konnten Medizin und Spitäler weitgehend davon ausgehen, dass seitens des klinischen Personals eine hohe Bereitschaft bestand, sich den üblichen, existierenden organisatorischen Bedingungen anzupassen: Schichtdienste, KITA-unfreundliche Arbeitszeiten, geringe Flexibilitäten, hierarchische Führungsformen, viel Kontrolle. All das wurde willig hingenommen. Das hat nicht mehr weiter Bestand.

Eine Frage der Autonomie

Die Hypothese ist, dass insbesondere dort Unwille existiert, wo geringere Autonomie-Grade in der Arbeit wahrgenommen werden. «Autonomie», verstanden als eine von drei elementaren Motivationsdimensionen meint, dass man Wahlmöglichkeiten und Einfluss auf die Arbeitsgestaltung hat [3]. Hier geht es nicht darum, dass die Menschen nur das tun wollten, was ihnen Spass macht, sondern dass sie über Wahlmöglichkeiten und Einfluss verfügen möchten. Idealtypisch: niemand von uns hat Freude, die Sicherheitskontrolle am Flughafen zu absolvieren. Aber wir akzeptieren sie, weil sie uns Sicherheitsgewinne beschert. Wie wir aus eigenen Untersuchungen in verschiedenen Spitälern wissen, variieren die wahrgenommenen Autonomiewerte deutlich nach Funktionsstufe: je höher in der Hierarchie, desto mehr an Autonomie wird wahrgenommen. Also erleben Chefärzte mehr Autonomie als Leitende, die wiederum mehr als Ober- und die wiederum mehr als Assistenzärztinnen.

Wer über weniger Autonomie verfügt, hat höheres Interesse die viel besprochene und gewünschte Work-Life-Balance zu verbessern. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Organisationen ein grosses Interesse daran haben sollten, die Autonomie-Grade ihres Personals zu erhöhen. Forschungen zeigen, dass sich die Zufriedenheit, aber auch die Produktivität der Mitarbeitenden wesentlich danach richtet, wie sehr sie in der Erfüllung ihrer Aufgaben durch die Führung unterstützt bzw. behindert werden. Erlebte Unterstützung ist Autonomie steigernd und bringt klar bessere Leistungen hervor als keinerlei Support. Aber – und dieses aAber ist ein grosses -– unnötige oder unerwünschte Hilfe wirkt umso mehr demoralisierend und kontraproduktiv. Wie kann man also konstruktiv unterstützen? Für die folgenden Hinweise gibt es Evidenz: 1) Greifen Sie nur ein, wenn die Mitarbeitenden mit einer anspruchsvollen Aufgabe beschäftigt und bereit sind, Hilfe anzunehmen; 2) stellen Sie klar, dass Ihre Rolle darin besteht, zu unterstützen und nicht zu beurteilen; 3) passen Sie den Rhythmus Ihres Engagements den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeiter an [4].

Umkehr der Verhältnisse

Beginnt man solcherart zu denken, drehen sich die Verhältnisse in interessanter Weise um. Exemplarisch wird das in den sogenannten «check-ins» sichtbar [5]. Diese bestehen darin, dass sich Führungskraft und Mitarbeiterin einmal pro Woche zusammensetzen und die Vorgesetzte im Kern zwei Fragen stellt: 1) Was sind Deine Prioritäten diese Woche?, und 2) Wie kann ich Dich unterstützen? Damit wird das klassisches Führungsverständnis auf den Kopf gestellt. Führung ist nicht mehr da, um Mitarbeitende anzuweisen und zu kontrollieren – dass klassische «BILA» dient im Regelfall der Information der Vorgesetzten und weniger dem Support der Mitarbeitenden – , sondern Fragen zu stellen, die Selbständigkeit initiieren und Support transportieren. Das ist nicht die Welt der Spitäler und der klassischen ärztlichen Führung. 

Klar ist, dass solche Führungsorientierungen im Widerspruch zu anderen Orientierungen in den heutigen Organisationen stehen. Kontrolle verschwindet nicht einfach, sondern wird weiterhin wichtig sein (aber wie genau?), Qualität und Leistung sind weiterhin zu sichern (aber wie genau?). Führung wird darum nicht einfacher. Im Gegenteil, Führende werden zukünftig viel mehr an Widersprüchlichkeiten und Paradoxien erleben und zu verarbeiten haben als heute. Man muss sich keiner Illusion hingeben: Das wird anspruchsvoll und an manchen Punkten schmerzhaft werden. Wichtig wird sein, dass die Spitäler ihre Führungskräfte nicht allein lassen, sondern sie darin unterstützen, diese Umorientierung zu unternehmen. Das bedeutet, dass HR-und Controlling-Praktiken, etwa der periodischen Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiter:innen-Beurteilungen und des Perfomance Managements, anzupassen sind. Denn, es wird nicht funktionieren den Führungskräften im Kontakt mit den neuen Ansprüchen der Mitarbeitenden alles abzufordern, ohne die Praktiken und Rituale der Organisation zu überarbeiten. Das würde längerfristig schiefgehen.

 

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Literatur
1 www.republik.ch, Auf lange Sicht. Wo sind alle hin? 11.7.22
2 wfhresearch.com/research-and-policy/
3 Deci EL, Olafsen A, Ryan RM. Self-Determination Theory in Work Organizations: The State of a Science. Annu. Rev. Organ. Psychol. Organ. Behav. 2017. 4:19–43
4 Fisher CM, Amabile TM, Pillemer J. How to Help (Without Micromanaging). Harvard Business Review, Jan.-Feb. 2021 issue
5 Buckingham M, Goodall A. Nine Lies about Work. Boston: Harvard Business Review Press; 2019
 

 

 

 

Dr. rer. soc. oec. Christoph Schmitz

Geschäftsführer college M, Bern

Dr. med. Christina Venzin

Leitende Ärztin am Spital Davos, Dozentin bei college M, Bern

Prof. Dr. Marcel Zwahlen

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