access_time veröffentlicht 16.11.2021

Ambulante Qualitätsindikatoren: Mehrwert für die Hausarztpraxis

Dr. med. Regula Capaul, Co-Präsidentin der SGAIM und Mitglied der Qualitätskommission

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Ambulante Qualitätsindikatoren: Mehrwert für die Hausarztpraxis

16.11.2021

Die Qualitätskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) präsentiert erstmals sechs praxisnahe und evidenzbasierte Qualitätsindikatoren für die ambulante Behandlung. Im Interview berichtet Dr. med. Regula Capaul, Mitglied der Qualitätskommission, Co-Präsidentin der SGAIM und Hausärztin, welche Ziele die Indikatoren verfolgen, welchen Indikator sie als erstes etablieren möchte und welche weiteren Projekte im Bereich Qualität anstehen.

 

Das Interview führte Muriel Bigler, Mitarbeiterin Kommunikation/Marketing, SGAIM

 

Frau Capaul, wieso ist Ihnen und der SGAIM Qualitätsarbeit so wichtig?

Ein Kernanliegen der Allgemeinen Inneren Medizin (AIM) ist die bestmögliche Betreuung und Behandlung von Patientinnen und Patienten in der Hausarztpraxis und im Spital. Im gesamten breiten klinischen Spektrum der AIM, insbesondere aber bei multimorbiden Patientinnen und Patienten, ist es von grösster Bedeutung, dass die Qualität im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses, dem sogenannten Plan-Do-Check-Act-Zyklus (kurz: PDCA-Zyklus), stetig verbessert wird. 
Bei der Gründung der SGAIM war sofort klar, dass die Etablierung einer Qualitätskommission eine zentrale Aufgabe der Fachgesellschaft ist. Dr. med Johannes Brühwiler (auch Vorstandsmitglied von mfe) hat die Qualitätskommission gegründet und die ersten Jahre präsidiert. Die Idee einer Qualitätskommission mit spezifisch fachlichen Inhalten passte ideal zur Neugründung unserer Fachgesellschaft. 
Unser Anspruch war, die Qualität im Alltag der Allgemeinen Inneren Medizin zu definieren und damit den politischen Geboten einen Schritt voraus zu sein. Qualitätsindikatoren gibt es beispielsweise bereits in der Chirurgie. In den ersten Jahren nach der Gründung der Qualitätskommission mussten wir uns einen Überblick über die Qualitätsarbeit in der Medizin verschaffen. Danach begann der Prozess mit der Definition von Qualitätsindikatoren. Das war ein durchaus kreativer Prozess.

Die SGAIM hat im Juni 2021 erstmals stationäre Qualitätsindikatoren publiziert. Wie war das Echo?

Die Qualitätsindikatoren der SGAIM sind wissenschaftlich fundiert und breit abgestützt. Qualitätsmassnahmen werden häufig kritisch beobachtet. Es gibt Vorbehalte, dass der Behandlungsalltag administrativ noch aufwendiger wird – in diesem Fall unbegründet; die Alltagstauglichkeit war allen Beteiligten ein grosses Anliegen. Die positiven Rückmeldungen haben uns gefreut und motiviert.

Nun empfiehlt die SGAIM auch für den ambulanten Bereich Qualitätsindikatoren. Welche Ziele wollen Sie damit erreichen?

Unsere Qualitätsindikatoren sind kein bürokratischer Mehraufwand, sondern im Gegenteil eine Hilfestellung im Praxisalltag bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten. Dies müssen wir glaubwürdig vermitteln, um die notwendige Akzeptanz zu schaffen. Die Indikatoren helfen dabei, Qualität durchdachter und strukturierter sicher zu stellen. Ausserdem steuern wir Behandelnden mit evidenzbasierten Massnahmen praxisfremden Entscheidungsträgern entgegen und übernehmen Eigenverantwortung für eine mass- und sinnvolle Medizin.

Das ist sehr vorbildlich…

Selbstverständlich leisten Hausärztinnen und Hausärzte bereits jetzt qualitativ hochwertige Arbeit. Wir müssen diese hohe Qualität aber auch ausweisen können und haben als Hausärztinnen und Hausärzte den Anspruch, unsere Qualitätsmassnahmen als Expertinnen und Experten unseres Fachs selber zu definieren.

Die Hausarztpraxen sind heute schon sehr belastet mit administrativen Arbeiten. Wie motivieren Sie persönlich Ihre Kolleginnen und Kollegen zur Umsetzung im Praxisalltag?

Bei den Qualitätsindikatoren handelt es sich um Aspekte, die bereits an anderer Stelle in den Krankengeschichten notiert wurden. Es sind zudem Vorgaben, die den Patientinnen oder Patienten sowie den Ärztinnen oder Ärzten einen Mehrwert bringen und sich einfach im Arbeitsalltag integrieren lassen. Die Indikatoren können aber auch im Patientengespräch Aufschlüsse über Krankheitsbilder geben: Wenn ich beispielsweise eine Patientin frage, ob sie im letzten Jahr gestürzt sei, und sie dies mit «nein» beantwortet, habe ich nur wenige Sekunden verloren. Antwortet sie allerdings mit «ja», kann dies ein wichtiger Hinweis für nötige Abklärungen geben und kann z.B. eine mögliche Hospitalisation verhindern. Es bringt also einen konkreten Mehrwert, die Qualitätsindikatoren in den Praxisalltag zu integrieren. 

Welche Vorteile haben Hausärztinnen und Hausärzte von der Qualitätsarbeit? Und welche haben Patientinnen und Patienten? 

Als Ärztin oder Arzt ist es wichtig, zu reflektieren, was Qualität bedeutet und sich bewusst zu werden, dass wir diejenigen sind, die wissen, was in unserem Fachgebiet qualitativ hochwertig ist.
Zweitens stellt sich die Frage, was ein sinnvoller Indikator ist. Wir haben bewusst keine Indikatoren gewählt, die Überversorgung provozieren.

Sollen Indikatoren die Arbeit in der Medizin vereinfachen?

Strukturen vereinfachen die Arbeit als Ärztin oder Arzt, das sieht man am Beispiel von «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland», einem Verein, der gegen die medizinische Über- und Fehlversorgung kämpft. Dies u.a., indem Listen mit unnötigen Behandlungen aus allen medizinischen Fachbereichen veröffentlicht werden. Guidelines oder Indikatoren unterstützen die Fachpersonen im Alltag und entlasten diese damit. Zudem dienen sie als Argumentarium im Patient-Arzt-Gespräch und helfen, Sachverhalte verständlich zu vermitteln. Das ist ein grosser Mehrwert für beide Seiten.

Werden Sie persönlich einen der Indikatoren in Ihrer Praxis etablieren? Wenn ja, für welchen würden Sie sich als erstes entscheiden und wie gehen Sie konkret vor?

Selbstverständlich, nicht zuletzt, weil ich aktiv in der zuständigen Kommission mitgearbeitet habe. Für mich handelt es sich bei den sechs Indikatoren um solche, die auf der Hand liegen und einfach umsetzbar sind. Ich selbst wende den grössten Teil bereits an. Den Indikator «Erkennen von Sturzrisiken und Prävention» werde ich auf jeden Fall zusätzlich einführen. Dies ist auch ein wichtiger Indikator für meine Patientinnen und Patienten. Gangunsicherheiten wird oft zu wenig beachtet oder ist sogar schambehaftet und bedeutet Kontrollverlust. Daher erzählen es Patientinnen oder Patienten oftmals nicht von sich aus.

Die SGAIM hat 2021 je sechs stationäre und ambulante Qualitätsindikatoren publiziert. Wie geht es nun weiter, was kommt als Nächstes?

Die Publikation der ambulanten Indikatoren steht an. Damit ist ein bereits grosser Schritt gemacht. Wir werden eine Vertiefung anstreben und die Indikatoren an Veranstaltungen auf geeignete Weise thematisieren. Ebenfalls überlegen wir die Vertiefung der Indikatoren in Form von wissenschaftlichen Arbeiten. Es braucht sicherlich Zeit, um die gewünschte Wirkung zu erzielen und die Indikatoren zu etablieren. 

Wird es weitere Indikatoren geben?

Auch das ist möglich. Allerdings geht es nicht darum, möglichst viele Indikatoren zu schaffen, sondern vernünftige Massnahmen zu entwickeln – Qualität vor Quantität. 

 

Zur Person

Regula Capaul ist seit der Gründung der Fachgesellschaft Mitglied der ständigen Qualitätskommission, Mitglied im Vorstand der SGAIM und seit 2019 Co-Präsidentin der SGAIM. Sie war zwischen 2009 und 2019 Präsidentin der Vereinigung Allgemeiner und Spezialisierter Internistinnen und Internisten Zürich (VZI). Regula Capaul ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und arbeitet seit 2003 als Hausärztin in Zürich.

Dr. med. Regula Capaul

Co-Präsidentin der SGAIM und Mitglied der Qualitätskommission

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